Der Traum vom Fliegen

21.07.2005

Googles neuestes Feature lässt uns als Besucher aus dem All jeden Punkt auf der Erde von oben besehen: In rasanten „Kamerafahrten“ stürzt man aus dem All mitten ins Bild, rauscht rund um den Globus. Sightseeing-Trips sind dabei fast so populär wie die Suche nach sich selbst.

Google, so könnte man sagen, operiert gerade im Lance-Armstrong-Modus. So wie die Arbeitstiere vom Discovery-Team ihren Boss, unbeeindruckt von allen Konkurrenten, gerade über die Pässe ziehen, lässt sich der Suchmaschinen-Primus von spektakulären Zusatzfeatures in den Börsenhimmel tragen.

Microsofts und Yahoos Angriffsplänen zum Trotz. Google local, Google video und Google maps heißen aktuelle Edelhelfer, die Lawrence Page und Sergej Brin beim Ausbau ihres Suchimperiums zur Seite stehen. Als die maps jüngst mit Satellitenfotos bestückt wurden, in die man bis zu Autos hinabzoomen und sich grafische Zusatzinformationen über die Dächer von Städten legen kann, glaubte man, das Such-Imperium wäre vorerst am Limit. Doch dann ging Google erst richtig aus dem Sattel.

Google Earth heißt das Programm, mit dem die Suchmaschine gerade ihre Grenzen auslotet. 10 MB groß und in der Basisversion kostenlos. Es kombiniert die lokale Suche mit einer 3D-Weltkarte, sagt die Webseite. Es macht den Traum vom Fliegen wahr, sagen die Fans.

Wie einst bei „Orion“: Rücksturz zur Erde

Es beginnt in einer Höhe von 6000 Kilometern über der Erde. Sie dreht sich nicht. Genauer gesagt: Sie dreht sich nur dann, wenn wir es wollen. Aber nicht nur um die eigene Achse, sondern nach oben und unten, in jede beliebige Richtung. Ein leichtes Kratzen am Rad der Maus, und der Sturzflug hinunter in die Straßen Manhattans oder über die Gipfel des Himalajas können beginnen. Wer sein Ziel ins Suchfeld eingibt, wird wie von einem ultraschnellen, virtuellen Triebwerk angetrieben zum Wunschort geschossen und tausend Fuß darüber sanft abgefedert.

Neu ist nicht das Bildmaterial selbst. Es ist das gleiche, das auch den Nutzern der Web-Weltkarte maps zur Verfügung steht. Außerdem sind Satellitenbilder schon seit Jahren im Netz verfügbar. Bei Bedarf und kostenpflichtig sogar in einer atemberaubenden Schärfe, wie zum Beispiel auf der Seite spaceimaging.com. Auch kostenlose Open-Source-Varianten wie zum Beispiel auf der Nasa-Seite Worldwinddata sind wohlbekannt.

Aber noch nie wurde die Betrachtung von Erdbildern aus dem All so atemberaubend inszeniert, wie auf Google Earth. Die Zooms sind schnell, das Bild lässt sich drehen und kippen, bei Bedarf sogar eine 3D-Ansicht aktivieren. Und es bleibt nicht beim Flug allein.

Wo Google draufsteht, sind Informationen drin

Etwa 20 Informationsschichten kann der Weltbeobachter bei seinen Erkundungstouren über das Bild breiten. Das größte Angebot gibt es bislang für US-Städte. Ob man ausgehen will, ein Parkhaus sucht, dringend eine Apotheke benötigt oder die Kriminalitätsrate eines Stadtteils überprüfen will: Das Bild zoomt heran, und grafische Informationen legen sich über die Dächer wie Tau.

Und das ist nicht alles. Google Earth bietet auch die Möglichkeit, fremde Daten zu importieren, zum Beispiel aus der Enzyklopädie Wikipedia. Alles, was das beliebte Web-Nachschlagewerk an Flüssen, Flughäfen und Orten zu bieten hat, erscheint als Icon auf dem virtuellen Globus und lässt sich als Lexikon-Artikel öffnen. Genauso gut kann jeder Nutzer seine Lieblingsorte speichern und eine Skript-Datei mit Geo-Daten verschicken. Schon jetzt kann man den Spielort der US-Serie „Desperate Housewives“ anwählen. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Koordinaten der „Lost“-Insel einspeist – oder die des letzten „Tatorts“.

Auf der Seite Googleearthhacks sind Enthusiasten schon eifrig am Basteln. Besonders schöne Fundstücke einer Google-Earth-Tour, wie zum Beispiel eine einsame, in gleißendem Abendlicht landende Boing 747 beim Flughafen Santiago de Chile oder aktuelle Informationen, zum Beispiel über die Orte der Anschläge in London oder sämtliche Etappendaten der Tour de France, kann man dort downloaden.

Googles Verdienst

Und während die User umherfliegen, wird Google daran verdienen. Die Informations-„Overlays“ sind traumhafte Werbeplätze. Schon jetzt nutzen Immobilienmakler Luftbilder, um ihre Objekte anzubieten, allerdings kostenpflichtig, wie bei on-geo.de. Die Basis-Version von Google Earth ist kostenfrei und erreicht so mehr Nutzer.

Auch Microsoft hat längst Witterung aufgenommen. Für den Juli ist ein fast identisches Produkt aus Redmond angekündigt, MSN Virtual Earth. Auch dieses Programm wird mit hochauflösenden Satellitenfotos und Overlays arbeiten. Im Unterschied zu Google Earth allerdings soll es eine schlanke Webapplikation sein mit einer „Eagle Eye“ genannten Zoomfunktion, die den Detailblick zumindest juristisch an seine Grenzen führt: Auf Fotos, die aus Flugzeugen aufgenommen wurden, kann man sogar die Umrisse von Menschen erkennen.

„Das ist doch nur noch eine Frage der Zeit, bis das alles Live-Bilder sind“, raunt ein Kollege. Doch Paranoiker können beruhigt sein: Die Google-Earth Bilder sind alt. In Berlin hat der Lehrter Bahnhof noch kein Dach und die Münchner Allianz-Arena ist noch ein ovales Gerippe. Bis zu drei Jahre können die Aufnahmen laut Google zurückliegen.

Datenschutzbedenken? Wegen steinalter Bilder?

Wer selbst erst einmal über den Planeten scrollt, für den ist die Angst vor Überwachung ohnehin kein Thema mehr. Im Gegenteil. Schon jetzt wird auf Fan-Blogs eine Anbindung an den umfangreichen Bildblog flickr.com angepriesen. Wer seine digitalen Schnappschüsse mit Geo-Koordinaten versieht, macht sie für Google Earth nutzbar.

Schon 50 aktuelle Digitalbilder, Tendenz steigend, kann man sich so über den Globus legen. Der eigentliche Clou an der Fotoblog-Anbindung: Google Earth kann die angezeigten Daten in zeitlichen Intervallen aktualisieren lassen. So zimmern sich die User die Live-Sicht quasi selbst zurecht, auch wenn das Material es eigentlich nicht hergibt.

In seinem Blog Geobloggers träumt Dan Catt von einem Autorennen, das man über GPS auf Google Earth beobachten kann. Nichts spräche dagegen, dasselbe auch für die Tour de France zu versuchen. Nächstes Jahr, auch wenn dann der kleine gelbe Punkt, der sich in der ersten Alpenetappe so wunderschön sichtbar vom Hauptfeld löst, nicht mehr Lance Armstrong sein wird. Der Amerikaner tritt zurück.

Erschienen auf www.spiegel.de am 21. Juli 2005.