Simulierte Echtzeit – „Erinnerung ist mehr als Nostalgie“

14.10.2014

Seit zehn Jahren rekonstruiert der deutsch-schwedische Autor Torkel S Wächter die Geschichte seiner deutsch-jüdischen Familie während des Zweiten Weltkriegs. Das Online-Projekt „32 Postkarten“ machte es möglich, die Ereignisse in Form eines fortlaufenden Tagebuchs in „simulierter Echtzeit“ noch einmal zu erleben. Nun ist „32 Postkarten“ auch als Buch erschienen.

Herr Wächter, seit Jahren arbeiten Sie den Nachlass Ihres deutsch-jüdischen Vaters auf. Seine Eltern – Ihre Großeltern – wurden im NS-Konzentrationslager ermordet, er selbst saß lange in Haft und wurde gefoltert. Eigentlich dürften Sie nicht besonders gut auf Deutschland zu sprechen sein, oder?

Ich bin tatsächlich mit einem sehr negativen Deutschlandbild aufgewachsen, das stimmt. Nachdem mein Vater 1938 vor dem NS-Regime nach Schweden geflohen war, wollte er nichts mehr mit seinem Heimatland zu tun haben. Aber als ich all die Postkarten, Briefe und Dokumente fand, die mein Vater mir hinterlassen hat, und nach und nach begann, sie zu entschlüsseln, ist etwas Interessantes passiert. Plötzlich habe ich begriffen, dass der Hass meines Vaters, wie ich ihn als Kind erlebte, in Wahrheit verratene Liebe war. Denn er hatte eigentlich eine sehr schöne Jugend in Deutschland. Meine Großeltern lebten in Hamburg, mein Vater spielte Fußball im HSV, war in der Wandervögel-Bewegung aktiv und liebte deutsche Philosophie und Literatur.

Also haben Sie sich mit Deutschland versöhnt?

Ja. Vielleicht sogar mehr als das. Ich habe mich der deutschen Vergangenheit meiner Familie immer weiter angenähert, könnte man sagen. Zunächst habe ich die Sprache gelernt, um den Nachlass meines Vaters überhaupt lesen zu können. Mit Ruth, der zweiten Frau meines Vaters, unternahm ich Reisen nach Deutschland und war sehr beeindruckt von ihrem offenen, versöhnlichen Umgang mit einem Land, das auch ihre Familie zerstört hat. Seit 2006 sind meine Kinder und ich sogar deutsche Staatsbürger.

Erinnerungen in simulierter Echtzeit

Dennoch spricht aus dem Material, das Sie vor nunmehr 14 Jahren auf dem Dachboden ihres Stockholmer Hauses gefunden haben, auch viel Leid und Verzweiflung. Sie haben sich entschieden, es zu publizieren und hierfür auch eine ganz spezielle Form gewählt, die Sie „simulierte Echtzeit“ nennen. Was kann man sich darunter vorstellen?

Die Ursprungsidee war, 32 Postkarten, die mein Vater zwischen März 1940 und Dezember 1941 überwiegend von meinen Großeltern aus Hamburg bekommen hatte, online noch einmal jeweils auf den Tag genau zu „verschicken“ – nur eben um 70 Jahre versetzt. Der Effekt war erstaunlich. Die Leser konnten die Postkarten abonnieren, gewissermaßen in die Rolle des Empfängers schlüpfen, und so all das Bangen um das Wohl der Absender, also meiner Großeltern, selbst erleben.

Der Inhalt der Karten selbst unterlag der strengen Zensur der NS-Behörden. Es sind unverfängliche Berichte vom Hamburger Alltag Ihrer Großeltern. Wie haben Sie die Situation für den Leser entschlüsselt?

Es stimmt, die Karten selbst sind zunächst schwer zu entschlüsseln. Sie sind alltäglich, man kann nicht verstehen, in welcher Situation sie geschrieben sind. Deshalb habe ich mich auch entschieden, jeder Postkarte einen knappen Kommentar beizufügen, nicht länger als der Originaltext selbst, der die Lage auch zeitgeschichtlich einordnet. Dennoch wollte ich mich als Autor auch bewusst zurückhalten und den Karten die Gelegenheit geben, für sich selbst zu sprechen.

Kommunikation über Kontinente

Wie können die Karten für sich selbst sprechen?

Allein als Objekte vermitteln die Karten eine ganze Menge an Informationen. Man kann die roten Zensurstempel der NS-Behörden sehen, kann sehen, dass die Adresse überstrichen ist und eine neue Adresse zugefügt wurde. Anhand der Poststempel ist zu erkennen, dass die Karten immer länger brauchten, um von Hamburg aus zu meinem Vater nach Schweden zu gelangen. Und auch die fein geschwungene Sütterlinschrift meiner Großeltern ist ein, wie ich finde, wertvolles Zeitdokument, das dem Leser helfen kann, tiefer in die Geschichte einzutauchen.

Erstaunlich ist auch, dass Ihre Großeltern sich für das Medium Postkarte entschieden haben, der im Grunde ungeschütztesten Art der Kommunikation.

Das stimmt, aber es ist auch vollkommen logisch in ihrer Situation. Sie setzten die Postkarten ein, wie wir heute E-Mails nutzen würden. Sie schrieben auch Briefe. Aber die Karten waren wie das Rückgrat, das Basisnetz einer Infrastruktur zwischen den Kontinenten, über die meine Großeltern die Familie zusammenhielten – mein Vater hatte ja noch zwei Brüder, die nach Argentinien und Brasilien geflohen sind.

Erinnern heißt, die Zukunft zu gestalten

„32 Postkarten“ ist nicht das einzige Projekt, das Sie aufgrund des Materials entwickelt haben. In „Die Ermittlung“ und „On this day 80 years ago“, ebenfalls als Online-Portale konzipiert, verarbeiten Sie weitere Dokumente. Sind die Postkarten gewissermaßen nur die Spitze des Eisbergs?

So könnte man sagen. Manchmal fühlt sich das ein bisschen an wie bei Edward Snowden. Der interessanteste Teil des Materials ist noch nicht publiziert worden, dazu gehören zum Beispiel die Briefe meines Vaters aus dem KZ Fuhlsbüttel von 1935 bis 1938. Ich stehe auch mit anderen Menschen in Kontakt, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich. Und ich glaube, sagen zu können, dass die Dokumente, die mir mein Vater hinterlassen hat, etwas ganz Besonderes sind.

Nach allem, was Sie heute wissen – wie stehen Sie zur Frage der deutschen Schuld?

Die Tragödie der NS-Zeit sollte uns nicht darüber täuschen, dass die Geschichte von Deutschen und Juden eigentlich über Jahrhunderte eine Erfolgsgeschichte war. Hinzu kommt, dass ich großen Respekt habe vor der Bereitschaft der Deutschen, ihre Verbrechen aufzuarbeiten. Jede Generation sollte ihre eigenen Methoden finden, sich zu erinnern. Und dabei immer bedenken: Es geht nicht um Nostalgie, sondern darum, die Zukunft zu gestalten.

Erschienen im Oktober 2014 auf www.goethe.de

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Oktober 2014