„Gentrifizierung ist kein Naturgesetz“ – Regisseur Andreas Wilcke im Gespräch

18.11.2016

Der Dokumentarfilmer Andreas Wilcke hat von 2011 bis 2015 den Boom auf dem Berliner Immobilienmarkt beobachtet. In „Die Stadt als Beute“ zeigt er dessen negative Effekte auf die Stadt und entlarvt den Hauptschuldigen der Misere.

Herr Wilcke, in einer der ersten Szenen Ihres Films sieht man Klaus Wowereit, den ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, auf Wahlkampftour. Wowereit warnt davor, Berlin als Biotop einer morbiden aber charmanten Metropole erhalten zu wollen. Was meint er damit?

Er bezieht sich hier auf ein ganz bestimmtes Image, das der Stadt eigentlich bis heute anhaftet: das der armen aber hippen Metropole. Wowereit hatte es selbst mit geprägt, als er Berlin 2003 in einem Interview als „arm aber sexy“ bezeichnete. Die Szene spielt 2011 auf einer Bootsfahrt durch den Bezirk Köpenick im Ostteil der Stadt – vorbei an einer ganzen Reihe ungenutzter Brachen. Statt in Nostalgie zu schwelgen, so Wowereit sinngemäß, müsse man nun anpacken und investieren, nur so hätte Berlin eine Chance.

Das klingt nachvollziehbar.

Natürlich ist es vernünftig, in Stadtentwicklung zu investieren. Und Nostalgie ist nie gut, wenn sie sinnvolle und wichtige Entwicklungen bremst. Leider scheint diese Entwicklung in Berlin gerade nicht besonders gut zu funktionieren. Die Stadt verändert sich zwar, noch dazu in hoher Geschwindigkeit. Aber der Preis für den Wandel ist viel zu hoch.

Warum?

Die Vielfalt, die Neugier auf andere Menschen, das soziale Miteinander – all das, was eine Stadt ausmacht, droht auf der Strecke zu bleiben. Ich beobachte in meinem eigenen Bezirk Berlin-Friedrichshain schon seit zehn Jahren, wie der Einzelhandel stirbt, wie Geringverdiener wegziehen müssen, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. Vor einiger Zeit besuchte mich ein Freund aus dem Ausland, der nach einem Spaziergang durch mein Viertel ganz geschockt war, dass so gut wie keine alten Menschen mehr auf der Straße zu sehen waren.

In Ihrem Film sind Sie der Ursache auf die Spur gekommen und haben den Schuldigen identifiziert: den boomenden Berliner Immobilienmarkt.

Ja, wobei es mir ganz wichtig war, hier eine klassische Täter-Opfer-Logik zu vermeiden – obwohl dies der Titel Die Stadt als Beute vielleicht suggeriert. Ich wollte die Immobilienmakler, die im Film auftreten und natürlich auch teilweise haarsträubende Dinge sagen, eben nicht als gierige Raubtiere zeigen, die über arme Mieter herfallen und sie aus ihren Wohnungen vertreiben. Das war mir als Analyse viel zu oberflächlich. Das eigentliche Problem in Berlin ist nicht der Immobilienmarkt an sich, sondern die Tatsache, dass die Politik es verschlafen hat, ihn zu regulieren. Die Makler sind nicht die Bösen, sie agieren lediglich im Rahmen ihrer eigenen Logik. Aber sie haben eben auch eine extrem eindimensionale Vorstellung davon, was Stadt als Lebensraum ausmacht. Und es wäre schlecht, wenn diese Sicht sich in der Breite durchsetzen würde.

Was ist das denn für eine Vorstellung?

Aus Sicht vieler Makler hat eine Stadt im Zentrum schön und teuer und nach außen hin immer billiger und hässlicher zu sein. Weit verbreitet ist auch die Auffassung, dass sich in ehemaligen „In-Bezirken“ wie Kreuzberg oder Mitte Studenten quasi automatisch zu gutverdienenden Bürgern entwickeln, die gerne bereit sind, für ein schön hergerichtetes Viertel auch mehr Miete zu bezahlen. Wer es sich nicht leisten kann, zieht eben weiter in den nächsten Bezirk. Dieser Verdrängungseffekt, auch Gentrifizierung genannt, wird als systemimmanent angesehen.

Und das stimmt nicht?

Nein, die Gentrifizierung ist kein Naturgesetz. Speziell Berlin zeichnet sich aus durch eine große Vielfalt sozialer Schichten im innerstädtischen Bereich. Das macht die Stadt interessant – auch für Investoren. Es wäre nun Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass der Wohnungsmarkt nicht gerade das kaputtmacht, was er selbst bewirbt.

Ihr Film zeichnet hier ein eher pessimistisches Bild.

Ja, leider. Zunächst einmal war es eine zweifelhafte politische Entscheidung, die den Berliner Immobilienmarkt überhaupt erst ins Rollen gebracht hat. 2005 verkaufte der Berliner Senat 65.000 Wohnungen aus staatlichem Besitz an eine Tochterfirma von Goldman Sachs – auch, um die eigenen leeren Kassen aufzufüllen. Das war für viele Investoren ein Indikator, dass es sich lohnen könnte, in den Berliner Markt einzusteigen. Regulatorische Maßnahmen galten lange als überflüssig. Von offizieller Seite hieß es lange, der Markt sei entspannt, es gebe genügend leerstehende Wohnungen.

Inzwischen hat man aber erkannt, dass es Handlungsbedarf gibt, oder?

Zumindest steht der soziale Wohnungsbau gerade ganz oben auf der politischen Agenda, und man bemüht sich mit diversen Maßnahmen, die Mietpreisentwicklung einzudämmen. Beispielsweise wurde 2015 ein Umwandlungsverbot von Miet- in Eigentumswohnungen in sogenannten Milieuschutzgebieten beschlossen. Das sind Gebiete, in denen die heterogene soziale Zusammensetzung der Wohnbevölkerung erhalten werden soll. Wobei man leider sagen muss, dass es speziell beim Umwandlungsverbot viele Schlupflöcher gibt, die auch gerne genutzt werden.

Wird es die Politik schaffen, die negativen Effekte des Marktes einzudämmen?

Das ist schwer zu sagen. Zwar sind sich Lokalpolitiker der Problematik sehr wohl bewusst. Sie haben nur leider einen sehr geringen Handlungsspielraum. Die offizielle Linie Berlins ist nach wie vor, Gelder für die leeren Kassen zu akquirieren und die Stadt für internationale Investoren attraktiv zu machen.

Ihr Film endet mit einem Zusammenschnitt fast vorstadtartiger Siedlungen – alles Bauprojekte mitten in Berlin. Spricht daraus schon Resignation?

Nicht zwingend. Es ist einfach das, was von der positiven Wachstumsrhetorik am Anfang des Films übrig bleibt, wenn man sich reale Bauvorhaben anschaut. Was in Berlin gerade an vielen Stellen entsteht, sind tatsächlich Vorstädte in der Stadt: architektonische und soziale Monokulturen für Besserverdienende. Das halte ich für eine sehr ungute Entwicklung. Ich würde mir wünschen, die Politik könnte sich entschließen, hier einzugreifen.

Andreas Wilcke wuchs in einer Kleinstadt im Land Brandenburg auf und lebt seit Anfang der 1990er-Jahre in Berlin. Er studierte an der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin und arbeitet seit 2009 als Dokumentarfilmer. Das Langzeitprojekt Die Stadt als Beute realisierte er als Regisseur, Produzent, Autor und Kameramann. Darin zeigt Wilcke über mehrere Jahre hinweg die Folgen von Bauboom, explodierenden Mietpreisen und Gentrifizierung für die Stadt Berlin. Die Stadt als Beute startete 2016 in den deutschen Kinos.

Erschienen auf www.goethe.de im November 2016.

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November 2016