Der Schnitzeljäger

28.09.2006

Sehen, Schmunzeln, Grübeln – eine Ausstellung in Frankfurt zeigt Andreas Slominski und seine Kunst des ironischen Bastelns

Wo ist der Leopard? Im Glossar des Begleithefts findet sich kein Eintrag unter L, das Museumspersonal muss bedauernd passen. Leider ist auch der Katalog noch nicht erschienen. Und so bleibt der Besucher ganz allein mit dem, was sich auf dem kleinen Flachbildschirm im dritten Stock des Frankfurter Museums für Moderne Kunst abspielt. Sind es Samenzellen, die sich da mikroskopisch vergrößert tummeln? Was hat die Großkatze damit zu tun? Ist die Aufnahme vielleicht nur das letzte Glied irgendeiner verrückten Versuchsanordnung?

Der Verdacht liegt nahe. Dreht sich Besucher nämlich um, steht er vor einer Kerze, die  vollkommen gewöhnlich wirkt, von der es aber im Glossar des Ausstellungsbegleiters heißt, sie wäre aus dem Wachs der Unterseite einer Unzahl von Langlauf-Skiern gewonnen worden, mit denen Besucher der Londoner Serpentine Gallery im letzten Winter auf einer Loipe vom königlichen Park bis in die Ausstellungsräume fuhren?

Alltagsgegenstände mit verrückten Geschichten, absurde Bauten mit nüchternem Namen, Werktitel ohne Werk – Willkommen im Kunst-Labor des Andreas Slominski. Wie auf einer Schnitzeljagd stromert der Besucher der bislang größten Ausstellung des Hamburger Künstlers durch die spektakulär verwinkelten Innenräume des Museums, eben jenes kleine Heftchen mit fehlendem Leoparden-Eintrag im Anschlag, blätternd, schmunzelnd, grübelnd ob der absurden Offenbarungen der Slominski-Objekte, die da und dort aus der bestehenden Museumssammlung auftauchen.

Da warten lauter Kunstköder auf den Besucher – und eine Regenwurmfalle

Slominski wurde bekannt als technisch versierter Konzeptkünstler, der mit nachgebauten Tierfallen das Prinzip des Duchamp´schen Ready-mades revolutionierte. Seine Fangapparate sind voll funktionstüchtig und dennoch nur für den Ausstellungsbetrieb gedacht. Als Objekte also nachgebaut und nicht vorgefunden, wie es Duchamps klassischer Ansatz vorsieht. Was passiert nun in der Wahrnehmung dieser „nachgeholfenen Ready-mades“? Wird der Kunstcharakter dadurch beschädigt? Oder kommt es zu einer ästhetischen Aufwertung der gezeigten Dinge im Alltag?

Wer in Frankfurt über solche Fragen nachsinnen möchte, hat zwar leider keine Slominski´schen Fangkonstruktionen zur Verfügung. Von all den Reusensystemen, Schnappmechanismen und Käfigarrangements ist so gut wie nichts zu sehen. Nur eine winzige „Spezial-Regenwurmfalle“ hat sich in die Ausstellung verirrt, wohl eher als zarter Verweis auf eine ausgesparte Werkgruppe denn als wahrnehmungsphilosophische Provokation gedacht. Statt der Fallen finden sich dafür umso mehr Kunstköder, die den „Slominski-Effekt“ mindestens ebenso nachhaltig entfalten. Wie etwa die maßstabsgetreue Dachkonstruktion mit Namen „Wo sind die Skier?“. Die gewaltigen, goldbraun versiegelten Holzstreben und das schwarze Schieferdach, die im Stadtbild zu vertraut sind, um uns in ihrer ästhetischen Qualität noch aufzufallen, können sich hier in ihrer formvollendeten Schönheit präsentieren. Und vielleicht sogar neugierig machen auf die geheime Kunst der Dachdeckerei, die so wundervolle Techniken wie die „Schuppen-Schablonen-Deckung“ entwickelt hat, wie man aus dem Ausstellungs-Booklet erfährt.

Slominskis Objekte schärfen den Blick fürs Alltägliche, machen neugierig auf die Geschichte von Dingen. Denn jedes Objekt, so erzählen es seine Arrangements, auch das alltäglichste, ist nicht einfach nur nichtssagender Gebrauchsgegenstand mit banaler Oberfläche, sondern ein komplexes Gebilde aus Kultur- und Technikgeschichte.

Vielleicht am elegantesten wird diese Wahrheit von jenen Arbeiten transportiert, die mittels bloßer Suggestion funktionieren, wie „Fußball mit Kinderschädel“. Der unwirklich glänzende Ball, in den angeblich ein Kinderschädel eingenäht wurde, konstruiert einen überraschenden und erschreckenden Verweis auf die Kulturgeschichte des Spiels, der das allzu bekannte Sportgerät mit blutrünstigen Stammesriten in Verbindung bringt: dem Spiel mit erjagten Totenschädeln.

Weniger blutrünstig, dafür mit großen Maßstäben spielend, verblüffen Slominsiks Farbinstallationen. Ein paar Eimer Farbe in der Raumecke sollen also ausreichen, um einen Kampfpanzer Leopard zu streichen? Und ein nur geringfügig größerer Haufen für einen kompletten Leuchtturm? In der Arbeit „Wiener Schwarz“ mischt sich dann wieder ein wenig Kulturgeschichte unter. Zur Gewinnung eines kleinen Döschchens pechschwarzer Farbe ließ Slominski den Oberschenkelknochen eines Lippizaner-Pferdes aus der traditionsreichen Spanischen Reitschule in Wien zermahlen.

Die vielleicht höchste Konzentration von Geschichte in Material erreicht Slominski mit seinem 1996 in Buchenwald gefundenen „Glückspfennig“ aus dem Jahre 1943. In einer überdimensionierten Glasvitrine aufgebahrt, wird das verwitterte grauweiße Geldstück wie ein sakraler Gegenstand präsentiert. „Je länger er seinen Glückspfennig betrachtet, desto fremder und unheimlicher blickt er zurück“, kommentierte der Dichter Durs Grünbein einst den Fund des Künstlers.

Bisweilen führt die Verdichtung der Kunst gar zur Auflösung des Werkes und dem Künstler genügt ein bloße Titel, wie „Taxi“, um die zugehörige, längst vergangene Kunstaktion zu adressieren. Oder noch schlichter, die Nennung apart klingender Eigennamen („Jerusalem“, „Puff“, „Tischbein“) aus dem Dunstkreis Goethes: phonetische Fundstücke und kulturgeschichtliche Referenz in einem.

Am Ende scheint sich der Künstler mit Selbstzitaten zu begnügen

Am Ende der Schnitzeljagd durch die Museumsgeschosse sollte man noch etwas im Basement verweilen, um die neueste Werkgruppe Slominskis, die man zu Beginn vielleicht nur streifte, noch einmal genauer zu begutachten. Das hilfreiche Büchlein mit all den lehrreichen und witzigen Anmerkungen darf man nun getrost zur Seite legen. Denn für das, was hier zu sehen ist, hat es keine Bedeutung mehr. Mit dem ironischen Bastler, dem verschmitzten Fallensteller haben die hier gezeigten, großformatigen Bilder nichts mehr gemein. Auf zwölf Styroporflächen wird Slominski zum Regisseur seiner eigenen Bilderwelten. Hochgradig detailverliebt wurden hier Ornamente in den körnigen Kunststoff gestanzt, darauf Zahnräder, Eisenstangen, technisches Gerät, Skier, Obst und allerlei anderer Kram appliziert, ebenfalls mit viel Liebe zum Detail aus Styropor geformt.

Fast wirkt es, als habe Slominski sich im Kosmos seiner eigenen Bilderwelten zurückgezogen und genüge sich am verspielten Selbstzitat. Oder aber als wolle er am Kunstboom teilhaben und endlich auch von der Nachfrage nach Wohnzimmerkunst profitieren. Vielleicht aber gilt es auch hier wachsam zu sein, doppelte Böden zu erspüren, in Erwartung der nächsten verrückten Slominski-Story. Über seinen großen Vorgänger Marcel Duchamp jedenfalls spukt schon seit einiger Zeit eine verrückte Theorie durch die Fachwelt: Eine amerikanische Kunsthistorikerin will herausgefunden haben, dass seine Ready-mades in Wahrheit gar keine Alltagskunst waren, sondern von ihm zuvor insgeheim verändert wurden. Bei Konzeptkünstlern kann man nie sicher sein. Gerade dann nicht, wenn sie sich neuerdings als „Maler“ tarnen.

Erschienen in Die Zeit am 28. September 2006.