Aus den Schluchten Manhattans zu den Füßen der Sphinx: Das Programm „Google Earth“ schickt seine Nutzer auf eine atemberaubende Weltreise
Cyberspace und Virtual Reality sind Worte, die niemanden mehr vom Hocker reißen. Spätestens seit unsere Handys uns Hoteltipps an den Urlaubsort liefern und uns Navigationssysteme Hilfestellungen aus dem Weltraum geben, ist die Vision einer virtuellen Bewegung durch eine globale Matrix obsolet geworden. An Ort und Stelle spielt die Musik, die Reise durch weltumspannende Funk- und Satellitennetze überlassen wir getrost unseren „mobile computing“ Geräten.
Um so erstaunlicher, dass nun eine Software auftaucht, die viele der schon leicht angestaubten Versprechungen einstiger Virtual-Reality-Gurus einzulösen scheint. Eher unauffällig – damit nicht sofort die Server kollabieren – hat der Suchmaschinen-Großmeister Google in der vergangenen Woche ein Programm zum Herunterladen angeboten, das alles in den Schatten stellt, was man bislang zum Thema virtuelle Welten gesehen hat. Google Earth (earth.google.com) heißt es, und es zelebriert die totale visuelle Verfügbarkeit der Welt.
Und so geht es: Wir sind im Weltraum. Vor uns auf dem Bildschirm leuchtet die Erde, aufgenommen aus einer Höhe von 6000 Kilometern. Sie dreht sich nicht. Genauer gesagt: Sie dreht sich dann, wenn wir es wollen. Aber nicht nur um die eigene Achse, sondern nach oben und unten, in jede beliebige Richtung. Ein leichtes Drehen am Rad der Maus und das Unglaubliche beginnt. Die Erde kommt näher, der Zuschauer erlebt Sturzflüge auf Kontinente, gleitet über Gebirge, Landschaften, Ozeane. Ein Zoom bringt uns bis in die Straßen großer Städte hinunter, auf denen einzelne Autos erkennbar sind. Eben noch über den Dächern von Tokio, schwebt man im nächsten Moment über der San Francisco Bay.
Hunderte hochauflösende Satelliten und Luftaufnahmen sind es, die dem Google- Earth-Nutzer das Herumstromern auf dem blauen Planeten ermöglichen. Google hatte die Bilder beim Kauf des Satellitenfoto- Anbieters Keyhole im vergangenen Oktober übernommen. Die Qualität ist erstklassig, immerhin wurde die Firma von der CIA unterstützt und lieferte Bilder von der Golfkriegsfront.
Ganz neu ist das Herumzoomen in hochauflösenden Satellitenbildern zwar nicht. Schon die Firma Keyhole hatte einen kostenpflichtigen Earth Viewer 3D im Sortiment. Viele Nutzer kennen die kostenlosen Open-Source-Varianten, zum Beispiel auf der Nasa-Webseite worldwind.com. Und auch Google selbst betreibt schon seit einiger Zeit einen Webkartendienst namens maps, der vor kurzem mit Satellitenbildern gefüttert wurde.
Aber noch nie wurde die Betrachtung von Erdbildern aus dem All so atemberaubend inszeniert, wie auf Google Earth, denn es bleibt nicht beim Flug allein. Gesetzt, man schwebte also über die San-Francisco-Bay und hätte plötzlich Lust auf Italien. Dann müsste man nur „Rome“ in die Suchfunktion eingeben, schon erhebt man sich in Stratosphärenhöhen Richtung Mittelmeer und fliegt Sekunden später 1000 Fuß über der Ewigen Stadt, um Haaresbreite über dem Kolosseum, das langsam aus einer Dunstwolke von Pixeln auftaucht. Das Bild lässt sich heranzoomen, drehen, kippen. Der Button „Italian Roads“ blendet sogar die Straßennamen ein.
Versenden Sie eine Insel!
Etwa 20 solcher Informationsschichten kann der Weltbeobachter bei seinen Erkundungsflügen über das Bild breiten. Das größte Angebot gibt es bislang für US-Städte. Ob man ausgehen will, ein Parkhaus sucht, dringend eine Apotheke benötigt oder die Kriminalitätsrate eines Stadtteils überprüfen will: Das Bild zoomt heran, und grafische Informationen legen sich über die Dächer wie Tau. Als besonderes Highlight gilt allerdings die 3-D-Darstellung. Ein Klick, und Häuserschluchten in Manhattan oder Täler im Himalaya entfalten sich perspektivisch. Und das ist nicht alles. Google Earth erlaubt es, Daten zu importieren, zum Beispiel aus der Enzyklopädie Wikipedia. Alles, was das beliebte Web-Nachschlagewerk an Flüssen, Flughäfen und Orten zu bieten hat, erscheint als Icon auf dem virtuellen Globus und lässt sich als Lexikon-Artikel öffnen. Genauso gut kann jeder Nutzer seine Lieblingsorte speichern und verschicken. Schon jetzt kann man den Spielort der US-Serie „Desperate Housewives“ anwählen. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Koordinaten der Lost-Insel einspeist oder die des letzten Tatorts.
Und während die User umherfliegen, wird Google daran verdienen, an den Informations-Overlays nämlich, die sich nach und nach auf der ganzen Welt einblenden lassen werden. Google hat es geschafft, eine präzise Suche nach Straßen oder Restaurants, wie sie die Handys gerade für den lokalen Radius lernen, in einen virtuellen, globalen Raum zu überführen. Schon jetzt nutzen Immobilienmakler Luftbilder,um ihre Objekte anzubieten, allerdings kostenpflichtig, wie bei on-geo.de. Die Basis-Version von Google Earth ist kostenfrei und erreicht so mehr Nutzer.
Auch Microsoft hat längst Witterung aufgenommen. Für Anfang Juli ist ein fast identisches Produkt aus Redmond angekündigt, MSN Virtual Earth. Auch Satellitenfotos und Overlays arbeiten. Im Unterschied zu Google Earth allerdings soll es eine schlanke Webapplikation sein mit einer Eagle Eye genannten Zoomfunktion, die den Detailblick zumindest juristisch an seine Grenzen führt: Auf Fotos, die aus Flugzeugen aufgenommen wurden, kann man sogar die Umrisse von Menschen erkennen und das ist justiziabel.
Dieser Vergrößerungsrausch weckt nicht nur Allmachtsgefühle, sondern ebenso das beklemmende Gefühl ständiger Überwachung und die Angst vor Missbrauch. Google versucht zu beschwichtigen: „Wir zeigen nichts, was nicht auch anderswo verfügbar ist“, sagt Google-Sprecher Stefan Keuchel.
Allerdings hat man es ohnhin nicht mit Live-Bildern zu tun, sondern mit Fotos, teilweise sogar mit recht alten. In Berlin hat der Lehrter Bahnhof noch kein Dach und die Müncher Allianz-Arena ist noch ein ovales Gerippe. Bis zu drei Jahre können die Aufnahmen laut Google zurückliegen.
Den Nutzer wird das nurwenig stören, sondern eher inspirieren. Schon jetzt könne man doch die Vergangenheit dokumentieren und Jahre später in einem history mode wieder abrufen, schlug ein Kommentator im Web vor. Vielleicht ist die Zeitmaschine, „Google Time Machine“, ja schon in Planung.
Erschienen in Süddeutsche Zeitung am 07. Juni 2005.