Unsere Straßen sind überlastet, in den Städten steht man entweder im Stau oder fährt Slalom um Lieferfahrzeuge, die Autobahnen werden von Lkw-Kolonnen verstopft, die Schadstoffbelastung steigt. Immer lauter wird eine Verkehrswende gefordert, dennoch scheint Deutschland mit angezogener Handbremse unterwegs zu sein. Warum eigentlich? Ein Gespräch mit dem Mobilitätsforscher Andreas Knie.
Herr Knie, deutsche Automobilhersteller, die in Betrügereien verstrickt sind und gleichzeitig Verkaufsrekorde melden, eine EU-Klage gegen Deutschland, erste Fahrverbote für Dieselfahrzeuge in Hamburg, über die sich alle lustig machen. Spannende Zeiten für einen Mobilitätsforscher, oder?
Das kann man wohl sagen. Wenn man jetzt noch die Meldung eines angeblichen europaweiten Verkaufsstopps von Neuwagen bei Porsche hinzunimmt, haben wir insgesamt eine recht unübersichtliche, aber auch herausfordernde Situation.
Weil nun endlich Bewegung in die seit langem stagnierende Mobilitätswende kommt?
Ob und inwiefern man hier von einer neuen Dynamik sprechen kann, die tatsächlich die Industrie zum Handeln treibt, bleibt abzuwarten. Was man aus Sicht der Forschung aber ganz klar sagen kann: In den Köpfen der Menschen hat sich die Notwendigkeit eines Wandels schon nachweislich manifestiert. Vor allem in großen Ballungsräumen beobachten wir eine Verschiebung der Präferenzen weg vom Auto als favorisiertes Verkehrsmittel hin zu intermodalen Konzepten. Nach neuesten Zahlen sind inzwischen zum Beispiel zwei Drittel aller BerlinerInnen mit einem Verkehrsmix, also intermodal, unterwegs.
Das ist bemerkenswert – auch deswegen, weil wir ja lange alles dafür getan haben, das Auto zu fördern, oder?
Absolut. Ein eigenes Auto zu besitzen und sich damit möglichst frei bewegen zu können, galt ja lange als elementarer Bestandteil privaten, bürgerlichen Glücks. Angefangen von der Stadt- und Infrastrukturplanung über das Verkehrsrecht bis hin zur Bauplanung haben wir alles auf dieses Ziel ausgerichtet. Wobei man sagen muss, dass diese Mechanik ja bis heute wirkt. In den vergangenen Jahren ist die Fahrzeugflotte immer weiter gewachsen. Wir lagen immer zwischen 0,8 und 2,5 Prozent jährlichem Plus, selbst in der Wirtschaftskrise 2009. Heute haben wir etwas mehr als 45 Millionen Pkw im Land.
Wenn Sie dennoch sagen, es ist ein Perspektivwechsel bei den Menschen zu erkennen, die zunehmend weniger Lust auf ein eigenes Auto haben – dann gilt das vor allem für große urbane Ballungsräume, oder?
Auch das ist richtig. Sobald Sie auf die Peripherie und das Land schauen, wirkt hier der sogenannte Zersiedelungseffekt: Stadtbewohner verlassen das Zentrum und sind am neuen Wohnort plötzlich mangels Alternativen stark auf ein eigenes Auto angewiesen. In vielen ländlichen Regionen entfallen 95 Prozent des Verkehrs auf Spezialangebote für Schüler und Auszubildende. Mit öffentlichem Nahverkehr, wie wir ihn aus Ballungszentren kennen, hat das nichts mehr zu tun. Der ÖPNV auf dem Land ist quasi nicht mehr existent.
Also nimmt der Verkehr auf den Straßen immer noch weiter zu?
Ja, wir beobachten eine Zunahme, und zwar auch aufgrund der hohen Wachstumsrate der sogenannten KEP-Dienste, also Kurier-, Express- und Paketbeförderungen. Hier haben wir es aktuell mit Steigerungsraten von zwölf bis dreizehn Prozent im Jahr zu tun.
Es ist also nicht nur ein Gefühl, dass der Güterverkehr auf der Straße stark zugenommen hat?
Nein, das ist Fakt. Auf vielen Autobahnen ist die rechte Spur für Pkw ja quasi überhaupt nicht mehr befahrbar, weil sie von Lkw-Kolonnen blockiert wird. Das alles ist einem Trend geschuldet: Solange der Transport von Waren auf der Straße im eigentlichen Warenwert gewissermaßen keine Rolle spielt, wird eben alles, was nicht niet- und nagelfest ist, auch auf der Straße hin- und hergeschickt. Die Schiene hat hier im Augenblick keine Chance. Man kann schon sagen, dass uns da etwas aus dem Ruder gelaufen ist.
Auch im Sinne von falschen verkehrspolitischen Entscheidungen?
Jedenfalls gibt es andere Länder, die das besser im Griff zu haben scheinen. Es gibt einen einfachen, sehr effektiven Hebel, den Güterverkehr auf der Straße einzudämmen: die Maut. Wenn Sie mit einem 40-Tonner in der Schweiz die Alpen überqueren, zahlen Sie zehnmal so viel Maut wie in Österreich – und in Deutschland quasi überhaupt keine relevanten Gebühren.
Sie sagen also, das Bedürfnis nach Veränderung ist durchaus vorhanden, trotzdem stecken wir noch tief im Sumpf alter Strukturen. Wie kommen wir da raus?
Der große Engpass bei allen Optionen zur Verkehrswende, die es ja durchaus schon gibt, ist unser strenges regulatorisches System. Unsere Straßenverkehrsordnung, unser Zulassungsrecht, unser Baurecht sind nicht kompatibel mit dem Bedürfnis vieler Menschen nach Veränderung. Sie sehen das auch daran, dass die Einführung von Elektromobilität in zwei Dritteln der Länder gerade noch in einer Debatte um Stellplätze festhängt. Was wir nun bräuchten, um wirklich voranzukommen, wären Experimentierräume, um überhaupt einmal konkret auszuloten, was schon möglich wäre.
Was meinen Sie damit konkret?
Nehmen Sie eine Stadt, die sich dazu entschließt, ihr Zentrum völlig anders zu organisieren. Man befragt die Bürger, ob sie damit einverstanden wären. Dann kostet das Abstellen von Autos zehn Euro am Tag. Bei denjenigen, die ein E-Auto fahren, nur noch die Hälfte. Und Carsharing-Autos können frei parken. So etwas sollte möglich sein.
Und dennoch passiert es noch nicht. Ist daran auch die deutsche Automobillobby schuld, von der immer wieder behauptet wird, sie agiere eher als Verhinderer denn als Förderer der Verkehrswende?
So sieht es gerade tatsächlich aus. Sie sehen das auch daran, wie absurd schwierig es momentan ist, in Deutschland ein Elektroauto zu kaufen. Wenn Sie in Berlin zu einem Händler gehen, kann es passieren, dass Sie bei den wenigen Modellen, die überhaupt angeboten werden, zwei Jahre auf die Lieferung warten müssen. E-Autos werden von deutschen Herstellern im Augenblick noch in geradezu homöopathischen Dosen gebaut.
Warum eigentlich?
Für mich ist das eigentlich nur Teil eines größeren Problems. Wir haben in Deutschland eine Kultur der Regulierung. Wir denken erst einmal lange nach, bevor wir Veränderungen anstoßen. Das ist grundsätzlich nicht falsch, solange wir uns dadurch nicht die Möglichkeit verbauen, Dinge auch einfach einmal auszuprobieren. Die weit verbreitete Angst der Industrie, uns würde ein Einstieg in die Verkehrswende ökonomisch auf die Füße fallen, ist für mich nicht wirklich begründet. Es ist nämlich so: Sobald man den Mut zeigt, Dinge wirklich anzustoßen, entstehen automatisch neue Optionen.
Welche Optionen haben wir denn aus Ihrer Sicht?
Der erste Schritt wäre, den alten Gedanken „dein eigenes Auto für deine eigenen Bedürfnisse“ fallen zu lassen. Vor allem in Städten brauchen wir eigentlich keine Autos in Privatbesitz mehr. Die Zukunft liegt für mich ganz klar in Sharing-Modellen. Dadurch reduzieren wir die Anzahl der Pkw drastisch.
Und bald werden die autonomen Robo- und Flugtaxis kommen, die den Straßenverkehr noch effizienter machen?
Also in Flugtaxis würde ich nicht allzu viel Hoffnung legen. So viel Platz gibt es nämlich gar nicht in der Luft, da stoßen Sie nämlich schnell an Grenzen. Aus diesem Grund haben zum Beispiel die Städte New York oder São Paulo ihren einmal sehr regen Helikopterverkehr inzwischen wieder drastisch eingeschränkt. Zum Robotaxi auf der Straße lässt sich sagen: Das ist eine schöne Vision, auf die wir nach meiner Einschätzung aber noch eine Weile warten müssen. Dabei ist die Hinderniserkennung gar nicht das Problem, die funktioniert nämlich schon sehr gut. Es ist nur so, dass sie gerade deswegen im Augenblick kaum vorwärtskommen.
Was dagegen gerade massiv in unseren Städten angekommen ist, ist ein weiteres Sharing-Konzept: Leihfahrräder. Das löst gerade eher gemischte Gefühle aus.
Ja, ich kann verstehen, dass sich da mancher überrumpelt fühlt von der Masse an Rädern, die quasi über Nacht in deutschen Städten aufgetaucht sind. Viele Städte sind ja schon dabei, zu reagieren, etwa durch die Einführung von Sondernutzungsgebühren für das Abstellen von Fahrrädern auf öffentlichem Raum. Aber auch das ist typisch für die deutsche Haltung: Man reguliert etwas weg, ohne Veränderungen wirklich zuzulassen. Dabei wäre es doch auch möglich, folgenden Gedanken zuzulassen: Ja, die Fahrräder stehen überall herum und damit müssen wir umgehen. Aber es gibt ja noch andere Geräte, die überall herumstehen, und zwar die Autos. Warum gehen wir dieses Problem nicht mit genau derselben Konsequenz an?
Prof. Dr. Andreas Knie
ist Sozialwissenschaftler und Geschäftsführer des Instituts für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) und Professor an der Technischen Universität (TU) Berlin.
Erschienen in: Mobilität der Zukunft (Inpactmedia) als Beilage der CAPITAL am 21.06.2018.