„Aller Zeiten“ – Floskeln in der Nachrichtensprache

1.01.2016

Mit ihrem Projekt „Floskelwolke“ machen die beiden Journalisten Udo Stiehl und Sebastian Pertsch auf Unzulänglichkeiten, Fehler und Manipulationen in der deutschen Nachrichtensprache aufmerksam.

Herr Pertsch, Herr Stiehl, was genau ist die Floskelwolke?

Sebastian Pertsch: Die Floskelwolke ist eine Rangliste in Form einer sogenannten Wortwolke, die wir online veröffentlichen und täglich analysieren. Diese Liste besteht im Moment aus 139 Floskeln. Wir zählen mithilfe einer automatisierten Suchanfrage, wie oft diese Ausdrücke auf den Internetseiten von rund 2.000 deutschsprachigen Zeitungen, Radiosendern, Fernsehsendern und Magazinen vorkommen. Je öfter eine Floskel genannt wird, desto größer erscheint sie in der Wortwolke.

Welche Floskeln sind das?

Udo Stiehl: Das sind zum Beispiel abgegriffene Sprachbilder wie „grünes Licht“ oder „Weichen gestellt“, missverständliche oder sachlich falsche Formulierungen wie „Datendiebstahl“ – Daten kann man eigentlich nicht stehlen, sondern nur kopieren. Oder die Floskel „aller Zeiten“:Eine Formulierung wie beispielsweise „der größte Betrug aller Zeiten“ schließt ja auch die Zukunft ein, die aber eigentlich niemand kennt. Und dann gehören auch Phrasen mit manipulativem Potenzial dazu. „Das Gesetz wurde nachgebessert“ ist so ein Fall. Dass eine Änderung auch zu einer Verbesserung führt, ist eine Behauptung, die in einem neutralen Bericht nichts zu suchen hat.

Warum sammeln Sie diese Phrasen?

Pertsch: Weil sie eben in Nachrichtentexten nichts zu suchen haben. Schließlich geht es darum, Sachverhalte möglichst präzise und objektiv darzustellen. Und da sind Floskeln eher hinderlich. Entweder wirken sie unseriös oder erschweren das Verständnis. Im schlimmsten Fall haben sie einen tatsachenverfälschenden, manipulativen Effekt. Dabei könnte man auf all diese Phrasen ohne Probleme verzichten.

SENSIBILISIEREN STATT ANPRANGERN

Und mit der Floskelwolke wollen Sie den Kolleginnen und Kollegen den Spiegel vorhalten?

Stiehl: Zumindest wollen wir für das Thema sensibilisieren. Eigentlich ist es ja auch Teil der journalistischen Ausbildung, bewusst und eher sparsam mit Floskeln umzugehen. Aber im Grunde ging es uns auch gar nicht darum, einzelne Kollegen oder Medien an den Pranger zu stellen oder handwerkliche Mängel aufzudecken. Viel wichtiger war es uns, erst einmal Fakten zu schaffen: Diese und jene Floskeln sind aus diesen oder jenen Gründen problematisch und werden dennoch sehr oft verwendet. Wir hoffen natürlich, dass die Kollegen sich das zu Herzen nehmen und vielleicht auch ihre eigene Sprache hinterfragen.

Funktioniert das?

Pertsch: Sogar sehr gut. Wir bekommen viel Feedback, auch über Facebook und Twitter. Überraschend für uns war vor allem, dass wir sehr schnell nicht nur im professionellen, journalistischen Kontext, sondern auch von Lesern und Zuschauern wahrgenommen wurden. Da hat sich mittlerweile eine sehr spannende Diskussion entwickelt. Viele Follower schicken uns Vorschläge für neue Floskeln oder geben wichtige Anregungen für unseren sogenannten Nachrichtengiftschrank. Das ist ein Glossar, in dem wir erklären, warum wir welche Floskeln für problematisch halten.

Welche Anregungen sind das zum Beispiel?

Stiehl: Neulich hatten wir eine sehr interessante Diskussion über das Wort „Super-GAU“. Das hatten wir ursprünglich in unserer Liste, da wir überzeugt waren, es gäbe keine sinnvolle Steigerung zu einem GAU, einem größten anzunehmenden Unfall. Ein Experte belehrte uns des Besseren. Wir haben das Wort dann auch wieder gestrichen.

MANIPULATIVE SPRACHBILDER

Ist es wirklich möglich, ganz auf Floskeln zu verzichten?

Pertsch: Zumindest für die reine Nachrichtensprache kann man sagen: Ja, hier ist es eigentlich möglich, so gut wie floskelfrei zu schreiben. Aber natürlich spielen Floskeln in anderen Zusammenhängen eine ganz entscheidende Rolle, beispielsweise in der Moderation. Die harmlosen Floskeln sorgen für Verständnis und erleichtern das Lesen oder Zuhören. Floskeln sind nicht an sich problematisch. Im Gegenteil: Sie sind ein wichtiger Teil unserer Sprache.

Es sei denn, es handelt sich um sachlich falsche oder manipulative Sprachbilder.

Stiehl: Ja, sicher. Die haben eigentlich nirgendwo etwas zu suchen. Da ist es wirklich auch eine Disziplinfrage, eben nicht unreflektiert Begriffe zu übernehmen, die mit einer ganz bestimmten Intention eingeführt wurden. Die Pressestellen der politischen Parteien etwa treffen ja ganz bewusst Absprachen über eine bestimmte Wortwahl. Nehmen Sie die sogenannte „Preisbremse“, die stabile oder sinkende Preise suggeriert, dabei aber gleichzeitig verschleiert, dass häufig nur der Anstieg verlangsamt werden soll.

DEUTSCH BESONDERS FLOSKELANFÄLLIG

Warum ist es für Journalisten offenbar so schwer, auf Floskeln zu verzichten?

Pertsch: Ein wichtiger Faktor ist sicher der zunehmende Arbeitsstress. Viele Redaktionen werden immer kleiner und trotzdem muss alles in der gleichen Zeit und mit der gleichen Qualität geschafft werden. Da schleichen sich natürlich Fehler ein. Ein anderer Grund ist vielleicht, dass es immer weniger reine Nachrichtenredakteure gibt. Heutzutage wird von Journalisten verlangt, sämtliche Medien und Formate zu bedienen. Das führt immer öfter dazu, dass Kollegen am Newsdesk mit einer Sprachwelt arbeiten müssen, in der sie noch unsicher sind.

Sie konzentrieren sich auf den deutschen Sprachraum. Würde die Floskelwolke auch in anderen Sprachen funktionieren?

Pertsch: Das ist eine wirklich spannende Frage. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass andere Sprachen weit weniger Floskeln haben als das Deutsche. Die Möglichkeit, Synonyme zu bilden, ist in anderen Sprachen bei weitem nicht so ausgeprägt. Allein die Möglichkeiten, Wörter miteinander durch Komposita zu verbinden, sind ja im Deutschen ausgesprochen vielfältig. Vielleicht ist auch aus diesen Gründen die Nachrichtensprache in anderen Ländern eine völlig andere.

Stiehl: Den Kollegen in Frankreich beispielsweise ist unsere strenge deutsche Newssprache ziemlich fremd, dort sind Nachrichten in der Regel immer moderiert. Wahrscheinlich würde die „Floskelwolke“, wie wir sie konzipiert haben, dort gar nicht funktionieren.

Erschienen auf www.goethe.de im Januar 2016.

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Januar 2016