„Illustration ist die Visualisierung von Gedanken“ – ein Gespräch mit Jens R. Nielsen

2.07.2013

In Europa tritt das Erzählen mit Bildern hinter dem Erzählen mit Worten zurück. Das ist im asiatischen Kulturraum anders. Jens R. Nielsen, Zeichner, Publizist und stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Illustratoren-Organisation e. V., wagt einen Kulturvergleich.

Herr Nielsen, der deutsche Comic-Zeichner Ulf K. wird im Herbst 2013 in Tokyo im Rahmen der Ausstellung „Die Deutsche Comic-Kultur“ japanische Studenten beim Zeichnen von Mangas anleiten. Was halten Sie von dieser Idee?

Grundsätzlich finde ich das großartig. Weil es immer positiv ist, wenn Institutionen wie zum Beispiel das Goethe-Institut den kreativen Austausch zwischen verschiedenen Traditionen ermöglichen. Dabei wäre natürlich zu fragen, welche „Tradition“ Ulf K. als Vertreter einer westlichen, europäischen Zeichenkultur eigentlich repräsentiert. Und inwieweit ein Austausch zwischen westlicher und fernöstlicher Zeichentradition gelingen kann, wenn man als Zeichner vielleicht nicht dieselbe handwerkliche Sprache spricht.

Aber wir leben doch längst in einer globalisierten Welt. Sind denn die Unterschiede zwischen deutscher und japanischer Illustrationskunst nach wie vor so groß?

Natürlich gibt es immer mehr Angleichungen und vor allem ein großes gegenseitiges Interesse. Ich bin mir sicher, die japanischen Kollegen werden Ulf K. mit Neugierde begegnen und wissen wollen, wie er arbeitet. Denn auch wenn sich der japanische Manga-Markt in den letzten Jahren stark internationalisiert hat und verstärkt auf globale Lizenzierungen setzt, so sind das doch alles vergleichsweise neue Entwicklungen. Wie man als freischaffender Illustrator arbeiten und leben kann, was die spezifischen Arbeitsfelder von Zeichnern in Europa waren und sind, all das wird die Studenten sicher interessieren – und möglicherweise auch verblüffen.

Trennung von Text und Bild

Warum verblüffen?

Weil sich die beiden Zeichentraditionen im Kern eben doch stark unterscheiden. Die europäische Geschichte der Illustration wurde spätestens seit Gotthold Ephraim Lessing maßgeblich durch die strenge Trennung von schriftlicher und bildlicher Repräsentation bestimmt. Irgendwann wurde in Europa nicht mehr hinterfragt, ob die Art und Weise, wie Narration im Medium Schrift funktioniert, sich wirklich grundsätzlich von der Art und Weise unterscheidet, wie man in Bildern erzählen kann. Noch heute gilt das Verdikt Gregors des Großen, dass Bilder sich angeblich selbst erklären – obwohl niemand mehr ohne erläuternde Literatur zu sagen wüsste, wer oder was in einem Bild aus Gregors Lebenszeit eigentlich zu sehen ist.

Weil sich uns die Bilder eben nicht automatisch erschließen?

Ganz genau. Wir verstehen von einem Bild nur wenig, wenn wir den Kontext nicht oder nicht mehr kennen. Ganz anders dagegen unsere Schrift: Die funktioniert als Zeichensystem, das sich von jeder Interpretation emanzipiert hat. Ein „a“ „bedeutet“ nichts mehr – außer eben „a“. In der fernöstlichen Zeichentradition gibt es nun interessanterweise Schriftzeichen, deren Bedeutung nur über den Verwendungskontext erschlossen werden kann, während andererseits Bilder sehr oft ikonische Qualitäten aufweisen, die wir in Europa ausschließlich der Schrift zuordnen würden. Nehmen Sie als Beispiel ein Kurtisanen-Portrait von Kitagawa Utamaro. Die individuelle, „lebensechte“ Ausarbeitung von Gesichtszügen spielt bei ihm keine Rolle.

Besonderheiten visuellen Erzählens

Was bedeutet das für den Stellenwert der Illustrationskunst in beiden Kulturkreisen?

Besonders hier in Deutschland zählt die visuelle Umsetzung von Sachverhalten und von Gedanken – denn genau darum geht es beim Illustrieren – nach wie vor wenig. „Illustration“ gilt als Dienerin des Mediums der Dichter und Denker: der Schrift. Sie sehen das an der Vehemenz, mit der Comics, Bilderzählungen und Karikaturen lange vom wissenschaftlichen Diskurs „gemobbt“ wurden: Comics, so der akademische Common Sense, waren eine leidige Mischung aus restringiertem Text und unästhetischen Bildern. Dass Comics und allgemein Illustrationen einen dritten Weg der Vermittlung von Inhalten bieten können, die jenseits der Möglichkeiten von Buchstabenschrift und Tafelbildern liegen, wurde erst sehr spät akzeptiert.

Können Sie uns ein Beispiel für diesen „dritten Weg“ der Vermittlung geben?

Nehmen Sie die berühmten Graphic Novels von Art Spiegelman über den Holocaust. Die Akteure in Spiegelmans Maus werden durch Tierköpfe bezeichnet. Juden sind beispielsweise Mäuse, Deutsche sind Katzen, Franzosen sind Frösche. Doch was ist eine französische Jüdin? Wer bestimmt, ob ein Lagerinsasse ein Jude ist? Spiegelman diskutiert mithilfe seiner Zeichnungen die für die Nazi-Ideologie so zentrale Frage, wem zusteht, Menschen in ein Etikettensystem zu pressen, das Selektion, Erniedrigung und Vernichtung ermöglicht. Und er bedient sich dabei Techniken, wie sie für visuelles Erzählen grundlegend sind: Typisierung, Stilisierung, Wiederholung und Variation.

Obwohl Illustrationen so viel bewirken können, ist das Image ihrer Schöpfer, der Illustratoren, hierzulande nicht das beste. Warum eigentlich?

Das ist nicht so leicht zu beantworten, da spielen sicherlich viele Faktoren eine Rolle. In unserem Nachbarland Frankreich beispielsweise herrscht traditionell eine große Wertschätzung für die Leistung von Karikaturisten – vermutlich wegen der seit der Französischen Revolution ungebrochen tradierten Rolle von Zeichnern und Stechern als Propagandisten des Fortschritts. Doch im Land der Dichter und Denker galt der Illustrator bis in die Moderne hinein gar nicht als der für den kreativen Output an Bildern Verantwortliche. Er war „lediglich“ derjenige, der ihn als Holzschnitzer, Stahlstecher oder Steinschneider technisch ermöglichte. Und genau mit diesem Image des Dienstleisters, des schlichten Übersetzers der genialen Ideen eines Autors oder Künstlers, haben Illustratoren bis heute zu kämpfen.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion
Juli 2013

Erschienen auf www.goethe.de im Juli 2013.