„Spielen macht uns flexibel“ – Rolf Oerter im Gespräch

1.11.2013

Für Kinder ist es unverzichtbar, für Erwachsene eine wichtige Quelle der Inspiration. Ein Gespräch mit dem Psychologen und Spielforscher Prof. Dr. Rolf Oerter über die Bedeutung des Spiels für den Menschen.

Herr Oerter, wir assoziieren das Spiel vor allem als kindliche Praxis. Welche Rolle spielt es für Erwachsene?

Generell kann man sagen: Spielen hat einen sehr hohen Stellenwert für Menschen, egal welchen Alters. Für kleine Kinder ist es die wichtigste Form der Lebensbewältigung überhaupt. Und auch Erwachsene greifen häufig auf Spiele zurück, um ihren beruflichen und privaten Alltag besser meistern zu können. Zum Beispiel dann, wenn sie ein Defizit spüren. Lebensbereiche, die beruflich nicht zu realisieren sind, werden spielerisch erschlossen, zum Beispiel in Form eines Hobbys. Oder denken Sie an die Vielzahl von sportlichen Wettkämpfen, die man durchaus als ritualisierte Kriege bezeichnen kann, und die auf eine sehr effektive Art Spannung ausgleichen können. Die Karten werden neu gemischt und plötzlich ist es möglich, dass ein sehr kleines gegen ein sehr großes Land gewinnen kann.

In Ihrer Forschung sprechen Sie an dieser Stelle noch viel grundsätzlicher von einer Verschränkung von Ontogenese und Kulturgenese des Spiels. Aus einer kindlichen Praxis entwickelt sich schließlich ein wichtiger Teil dessen, was wir Kultur nennen. Können Sie uns das erklären.

Im Grund kann man sämtliche großen Handlungsfelder der Kultur, also Kunst, Musik, Literatur, Theater und Sport, als eine Weiterführung und Kombination von Spielformen beschreiben, die wir in unserer Kindheit ausbilden: Aus dem sensomotorischen Spiel entfalten sich Sportarten und Tänze, aus dem Konstruktionsspiel entstehen Kunstwerke, Architektur und Ingenieurskunst. Musik ist beschreibbar als Weiterentwicklung kindlicher Improvisation. Rollenspiele führen zu Theater und Oper, und Regelspiele bilden eine Basis für Regeln in der Gesellschaft überhaupt.

Transformation der Wirklichkeit

Trotz dieser großen Formenvielfalt: Gibt es so etwas wie allgemeine Merkmale des Spiels?

Ich denke schon. Ganz zentral ist beispielsweise die Zweckfreiheit. Man spielt in der Regel der Tätigkeit wegen. Denken Sie an die Knobelei beim Sudoku oder das Lösen eines Kreuzworträtsels. Sobald Sie die Aufgabe gelöst haben, wird das Spieleblatt entsorgt. Ein zweites wichtiges Kriterium ist etwas, das ich Realitätstransformation nennen möchte. Sobald wir mit einem Spiel beginnen, begeben wir uns in eine andere Realität, nämlich die des Spiels. Sehr häufig ist das Spielen dabei auf bestimmte Objekte bezogen, also zum Beispiel Spielkarten, Bälle, Alltagsgegenstände, die dann im Sinne der Spiellogik umgedeutet werden. Und, vielleicht als letzten Punkt: Spielhandlungen haben eine Tendenz zur Wiederholung. Sobald eine Tätigkeit gelingt, wird sie lustvoll wiederholt.

Warum spielen wir eigentlich, welchen Nutzen bringt es uns?

Lange Zeit hatte man vor allem den Trainingseffekt des Spielens im Blick. Handlungen werden eingeübt, mit denen sich der Spieler für reale Anforderungen rüsten kann. Wie ein kleines Kätzchen, das auf diese Weise das Fangen von Mäusen lernt. Mittlerweile wissen wir, dass das nur der Nebeneffekt einer Praxis ist, die hauptsächlich dazu dient, geistige Beweglichkeit zu trainieren. In einer Spielsituation hat man einerseits immer wieder mit veränderten Situationen zu tun, an die man sich anpassen muss. Andererseits hat man auch die Freiheit, relativ stressfrei zu reagieren. Das sind ideale Bedingungen, um eine Flexibilität einzuüben, die einem in realen Situationen Vorteile verschafft.

Sie unterscheiden zwischen realen und spielerischen Situationen. Ist diese Trennung denn in jedem Fall sinnvoll?

Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen realen und spielerischen Handlungen. Was aber nicht heißt, dass es immer sinnvoll ist, auch scharf zwischen Kategorien wie Arbeit und Spiel zu trennen. Im Gegenteil. Wir wissen, dass gerade dann, wenn Arbeit als interessant und erfüllend empfunden wird, spielerische Elemente eine Rolle spielen. Produktive Arbeit enthält stets Spielelemente, die kreative Leistungen ermöglichen und gleichzeitig Reaktanz und Ermüdung herabsetzen. Besonders ausgeprägt ist das zum Beispiel unter Wissenschaftlern. Viele Spitzenforscher weisen immer wieder darauf hin, wie wichtig spielerische Elemente sind, um wirklich bahnbrechende Ergebnisse zu erzielen.

Stimulationen und doppeltes Realitätsgefühl

So nützlich Spiele für uns sind, sie bergen auch ein Risiko.

Ja, sie können süchtig machen. Besonders problematisch ist dies bei digitalen Spielen. Wer an einem Computer spielt, erhält immer eine sofortige Rückmeldung und wartet nach seiner Reaktion bereits auf die nächste Rückmeldung. Das ist im sonstigen Alltag eigentlich untypisch. Normalerweise erfahren wir nach einer Stimulation unseres Belohnungszentrums nicht unmittelbar den nächsten, gleichgearteten Reiz. Nehmen Sie als Gegenbeispiel das Schachspiel, bei dem zwischen den Zügen eine lange Zeit des Überlegens und Vorausplanens stehen kann.

Ist es nicht auch so, dass uns das Computerspiel in eine regelrechte Reiz-Reaktions-Maschinerie einspannt? Uns also als Spieler gewissermaßen „unfrei“ macht.

Das stimmt. Viel entscheidender finde ich aber die Tatsache, dass die Spielwelten, in welche der Computerspieler eintaucht, im Falle von digitalen Szenarien genauestens vorgegeben sind – im Unterschied zu all jenen Spielen, in denen sich die Akteure diese Welt selbst konstruieren. Wer sich exzessiv in solchen digitalen Welten aufhält, entwickelt tatsächlich so etwas wie ein zweites und somit doppeltes Realitätsgefühl. Er lebt in zwei Welten. Und das halte ich für problematisch.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion
November 2013

Erschienen auf www.goethe.de im November 2013.

Bild: Spielen © Steffi Reichert (via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)