Müde im Museum

6.11.2010

Carsten Höllers Großinstallation Soma im Hamburger Bahnhof

Die Jungs können einem schon ein bisschen leid tun, wie sie da dröge vor sich hin schleichen in ihren kargen Gehegen. Zwölf kastrierte Rentiermännchen hat der Künstler Carsten Höller für seine aktuelle Ausstellung in den Hamburger Bahnhof bringen lassen. Und obwohl sich über die Gefühlslage der Geweihträger nur mutmaßen lässt, von rauschhaften Emotionen oder ekstatischen Zuständen scheinen die Tiere doch relativ weit entfernt zu sein. Wie soll eine hormonell ruhiggestellte, von glotzenden Besuchern eingeschüchterte Männergruppe ohne Frauen auch zu irgendwelchen Hochgefühlen fähig sein?

Dass ausgerechnet diese müden Jungs die Hauptrolle in einem „Experiment“ spielen, das sich zum Ziel gesetzt hat, nach dem perfekten Rauschmittel zu forschen, ist vielleicht ein bisschen unglücklich. Die Rentiere sind einfach der greifbarste Teil eines gigantischen Versuchsaufbaus mit riesigen Kanarienvögelwaagen, Mäusespielplätzen, Fliegenuntersuchungsstationen und diversen Beobachtungsplätzen, den Höller flächenfüllend in die großen Halle des Hamburger Bahnhofs installiert hat. Dies alles habe den Zweck, so erfährt der Besucher, einer lange bekannten Theorie über eine geheimnisvolle Droge namens Soma auf den Grund zu gehen, die in alten Texten für ihre wahrnehmungserweiternde Kraft besungen wurde, dann aber leider aus den Rezeptbüchern nachfolgender Generationen verschwand.

Dieser Theorie nach wurde Soma aus Fliegenpilzen gewonnen, was man einerseits aus linguistischen Herleitungen, andererseits aus der Tatsache schließen könne, dass sibirische Nomaden das Gewächs noch heute für schamanistische Rituale einsetzten. So zumindest steht es im Buch eines gewissen Gordon R. Wasson, einer Art Kulturwissenschaftler der Pilzforschung, der versuchte, die Mykologie mit Disziplinen wie Linguistik, Religionswissenschaften, Mythologie, Kunst und Archäologie zu verknüpfen. Titel der Arbeit: „Divine Mushroom of Immortality“.

Gut, das klingt ein bisschen nach wirrer Drogenesotherik. Erschienen ist das Buch auch noch ausgerechnet 1968. Aber Carsten Höller muss doch wissen, was er tut. Schließlich handelt es sich um einen habilitierten Agrarwissenschaftler, der unter anderem hochkomplexe Phänomene wie die Geruchskommunikation bei Insekten erforschte. Und der sich in seiner nachfolgenden künstlerischen Laufbahn zu Recht den Ruf eines sehr genau arbeitenden Forschers an menschlicher Wahrnehmung erworben hat. Besucher seiner Ausstellungen rutschen sich in spiralförmigen Röhren schwindelig, stolpern durch Räume mit optischen Täuschungen oder reflektieren grundlegend über das eigene Menschsein, wie in seiner genialen Gemeinschaftsarbeit mit Rosemarie Trockel für die Documenta X 1997, als er Besucher und Schweine in einem „Haus für Menschen und Schweine“ zusammenbrachte.

Auch „Soma“, seine Installation im Hamburger Bahnhof, ist perfekt durchkonzipiert. Im Grunde handelt es sich um einen gigantischer Versuchsaufbau zur Überprüfung der Wassonschen Fliegenpilzhypothese. Die Halle ist in zwei gleiche Teile geteilt, in jedem dieselbe Anzahl von Tieren. Die Rentiere bekommen Fliegenpilze zu essen, was ihnen angeblich nicht schadet, scheiden den psychoaktiven Wirkstoff über den Urin wieder aus, der von Wärtern aufgefangen, gekühlt und den Mäusen, Vöglen und Fliegen in einer Hälfte der Halle verabreicht wird. Die andere bleibt nüchtern und so kann man vergleichen. Wer die Droge wirklich bekommen hat, bleibt für den Beobachter unklar. Da den Tieren die Gabe nicht „bewusst“ werden kann, handelt es sich um einen makellosen, sogenannten „Doppelblindversuch“ nach aktuellem wissenschaftlichem Standard.

Delirierende Kanarienvögel, verwirrte Mäuse

Doch leider scheint es diesmal ausgerechnet Höllers ausgefuchster Formalismus zu sein, der gegen ihn arbeitet. Denn der Kredit, den man der gewaltigen Anlage trotz anfänglicher Irritationen über müde Rentiere oder arrivierter Pforten-der-Wahrnehmung-Drogenromantik noch gegeben hat, ist spätestens nach 15 Minuten der konzentierten Betrachtung und Nachsinnens über die innere Logik des sogenannten Experiments vollkommen aufgebraucht. Dabei ist es noch nicht mal ein Problem, dass wahrscheinlich nie wirklich Fliegenpilze verfüttert werden, wie man aus Äußerungen oder vielmehr nicht getätigten Äußerungen des Künstlers entnehmen kann. Weit schlimmer ist es, sich vorzustellen, was in einem solchen Falle tatsächlich zu sehen wäre: Nämlich gar nichts.

Entgegen den Behauptungen von Herrn Wasson ist der Fliegenpilz, nach allem, was man heute über seinen Wirkstoff weiß, eine ziemlich langweilige Droge. Zunächst muss man es schaffen, eine giftige Ingredienz herauszufiltern, die für wenig erstrebenswerte Zustände wie entsetzliche Übelkeit und komatösen Schlaf verantwortlich ist. Das leisten die Rentiere mit ihren Nieren. Doch selbst dann bleibt nur ein Stoff zurück, der noch nicht mal als Halluzinogen, sondern lediglich als Delirantium wirkt. Mit anderen Worten: Man phantasiert wild vor sich hin, kann sich danach aber an rein gar nichts mehr erinnern. Vom mythischen Rauschtrank, den Höller in seinen Quellen zitiert, scheint der Pilzrausch jedenfalls weit entfernt zu sein: „Wir haben das Soma getrunken; wir sind unsterblich geworden, wir haben das Licht gesehen; wir haben die Götter gefunden.“

Man stelle sich also vor: müde Rentiere, durch die ein psychoaktiver Pilzbrei hindurchläuft wie durch eine Filteranlage, delirierende Kanarienvögel, verwirrte Mäuse, irgendwie umherfliegende Fliegen. Wenn das die Zeichen einer anderen Welt sind, der Herr Höller angeblich auf der Spur sein will, möchte man mit dieser dann doch lieber nichts zu tun haben. Abgesehen davon, dass der Künstler zwar mit der Drogenromantik eines freien Zugangs zur alternativen „Soma-Welt“ spielt, eines “Rechtes auf Rausch”, dessen sich der Besucher seiner Ausstellung durch die ästhetische Erfahrung quasi bewusst werden kann, formal aber alle Zeichen auf knallharte Restriktion setzt. Wer die ultimative Soma-Erfahrung sucht, kann ein „Übernachtungspackage“ des Hotels InterContinental buchen und in einem schwebenden Hotelzimmer inmitten der Installation übernachten. Preis pro Nacht: 1000 Euro.

Von der relationalen Ästhetik, also der Möglichkeit zur Interaktion, für die die Arbeiten Carsten Höllers gerne und oft gelobt werden, ist bei Soma demnach nur wenig zu spüren. Entweder man hat keine Geld für die „Nacht im Museum“ oder aber auch sonst keine Idee, was es eigentlich zu beobachten oder zu besprechen gäbe. Einziger Ausweg scheint es zu sein, sich gar nicht so streng an die Vorgaben des Künstlers zu halten. Die kameraüberwachte Fliegenbeobachtungsstation jedenfalls, deren Monitore sich über die Hallenbreite gegenüberstehen, wurde schon am ersten Ausstellungstag für kommunikative Zwecke “missbraucht”. Statt zwei Fliegen sah man plötzlich zwei Hände. Die eigene, um das Bild zu testen und eine fremde, die gegenüber genau dasselbe macht. Und plötzlich ein Blickkontakt, Lächeln, zwischen den müden Rentiere hindurch, hinüber zur anderen Seite, auf der zwar kein mythisches Licht, aber das erstaunte Funkeln in den Augen eines Mitmenschen zu sehen war: eine Begegnung mit einer „anderen Welt“. So gesehen könnte das Experiment am Ende auf eine ganz und gar unerwartete Weise sogar glücken. Fliegenpilzessenz dürfe dabei eine eher zu vernachlässigende Rolle spielen.