Die neue Wirtschaft – Themenheft „Economy 4.0“ (Wirtschaftswoche)

17.11.2017

Was die sogenannte digitale Transformation angeht, sind viele Dystopien im Umlauf. Doch wie wäre es, die Perspektive einmal grundsätzlich zu wechseln? Eigentlich ist die Digitalisierung, so der Visionär und KI-Experte Hans Christian Boos, nicht der Feind, sondern der Freund des Menschen. Vorausgesetzt, man hat den Mut zur Veränderung.

Herr Boos, wie würden Sie das, was im Zuge der Digitalisierung gerade um uns herum passiert, beschreiben?

Es ist eine industrielle Revolution, die durchaus nach einem ähnlichen Muster abläuft wie ihre bekannten historischen Vorbilder. Im Kern ging es immer und geht es auch heute um einen großen Effizienzgewinn. Das war bei allen großen technologischen Neuerungen so, sei es das Rad, die Dampfmaschine oder das Auto. Trotzdem gibt es einen wichtigen Unterschied.

Und der wäre?

Bislang war es immer eine vergleichsweise kleine Gruppe – Ingenieure, Produzenten oder Unternehmer – die die Veränderungen in Gang gesetzt und auch davon profitiert haben. Die Mehrheit der Menschen wurde sozusagen vor vollendete Tatsachen gestellt. Doch dieses Mal ist das fundamental anders. Dieses Mal geht die Revolution von der Mehrheit aus – von den Konsumenten. Man könnte auch sagen: Früher wurden die Menschen von den wirtschaftlichen Entwicklungen getrieben. Jetzt treiben die Menschen die Wirtschaft.

Was heißt das für die Wirtschaft?

Es stellt Unternehmen vor vollkommen neue Herausforderungen. Sie sehen sich Konkurrenten gegenüber, die nicht mehr in derselben Liga zu spielen scheinen. Die großen sogenannten Plattform-Firmen (Google, Facebook, Amazon, Tencent & Co.) der digitalen Ökonomie haben Geschäftsmodelle entwickelt, die exponentiell und nicht mehr linear wachsen. Sie üben eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft auf Konsumenten aus.

Warum ist das eigentlich so?

Weil sie, trotz aller Kritik in anderen Bereichen, vereinfacht gesagt einfach netter sind zu ihren Kunden. Unter anderem messen sie den Menschen einen Lebenswert und keinen Transaktionswert bei. Deswegen kann eine Transaktion auch einmal unprofitabel sein. Die Firmen wissen, solange der Kunde nicht von ihrer Plattform verschwindet, sind sie insgesamt im Plus.

Und wenn die Kunden in Scharen zu den Plattformen überlaufen, wie bringen die klassischen Unternehmen dann ihre Produkte noch an den Mann?

Eben nur noch indirekt. Sie müssen sich dann zunehmend mit der Rolle des Lieferanten zufrieden geben. Dann heißt es eben für das Plattform-Unternehmen: „Wir haben gar kein Interesse, Produkt X selbst herzustellen. Wir kaufen das einfach ein.“ Das wiederum führt zu drastisch sinkenden Margen bei den Herstellern von Produkten und Dienstleistungen. Konnte eine Bank bis vor einigen Jahren noch 20 Prozent Gewinn machen, wird dieser Wert vielleicht demnächst auf ein Prozent schrumpfen.

Welche Optionen haben Unternehmen in dieser Lage?

Im Grunde können Sie sich zwei Fragen stellen: Wollen wir diesen Kampf überleben? Oder wollen wir selbst konkurrenzfähig werden? Wenn man nur überleben will, sind drei Dinge essenziell: Man sollte etwas herstellen, was der Kunde auch haben möchte. Und das geht am besten, wenn man innovativ ist. Zweitens sollte man bekannt sein, das heißt, man muss eine Marke haben und diese auch pflegen. Und drittens: Wenn die Plattformen Ihnen nach und nach die Kunden wegnehmen, ist die einzige Chance, hier gegenzuhalten, der Service. Also wird man ihn, nachdem man ihn aus Rationalisierungsgründen lange abgebaut hat, in Zukunft wieder bieten müssen. Ich prophezeie ein Comeback des Service.

Und wenn Unternehmen im Spiel der neuen Wirtschaft wirklich mitspielen wollen?

Wenn Sie wirklich konkurrenzfähig werden wollen, müssen Sie sich ein neues Geschäftsmodell suchen. Und zwar ein Modell, das exponentiell ist, das ein ganz neues Ökosystem um eine Leistung oder ein Produkt herum schafft. Damit wird es schwer angreifbar. Das kann eine Nische sein, aber wenn dort ein Konkurrenzkampf stattfindet, dann wenigstens mit ähnlichen Waffen. Das ist wünschenswert, das nennen wir Markt und am Ende haben alle was davon.

Aber wie soll ein Unternehmen, das sowieso schon unter Druck steht, die Zeit und das Geld haben, ein neues Geschäftsmodell zu entwickeln?

Ja, genau das ist die spannende Frage. Wenn alles so weiterläuft wie bisher, mit linear steigenden Geschäftsmodellen, bei denen man, wenn man clever ist, vielleicht noch ein Prozent Effizienzsteigerung herausholen kann, mit einer Arbeitsmarktpolitik, die hauptsächlich auf Vollbeschäftigung zielt, statt die Rahmenbedingungen für diejenigen Talente zu verbessern, die Firmen für einen solchen Weg wirklich bräuchten – dann wird wirklich nicht viel passieren. Dann wird niemand in Service und Innovation investieren und schon gar keine neuen Geschäftsmodelle entwickeln.

Haben Sie eine Lösung?

Die Lösung kann nur sein, dass irgendetwas einen Großteil der Arbeiten erledigt, die uns bisher blockiert bzw. beschäftigt haben. Ein bestehendes Unternehmen kann ja nicht einfach sagen: „Ich höre jetzt schnell auf, zu tun was ich tue. Liebe Kunden, bis ich mich neu erfunden habe, müsst ihr jetzt warten.“ Das wäre so, als ob VW plötzlich beschließen würde, in den nächsten zwei Jahren keine Autos mehr zu produzieren, weil man sich die Zeit nehmen muss, über neue Geschäftsmodelle nachzudenken. Die einzige Möglichkeit, in dieser Situation, die nötigen Mittel zu mobilisieren, ist, die Effizienz der bisherigen Produktion massiv zu steigern. Und damit meine ich wirklich nicht die angesprochenen ein Prozent, sondern eine massive Steigerung. Und diese Steigerung erzielen wir durch Automatisierung.

Sie meinen mit der Automatisierung, vor der gerade alle gerade zittern, weil sie eventuell viele Jobs ersetzen wird?

Das wird auch passieren, und zwar schon allein deshalb, weil wir unser gesamtes Wirtschaften darauf ausgerichtet haben. Um das, was technisch an Komfort möglich war, auch erschwinglich zu machen, haben wir die große Massenfertigung eingeführt. Und die wiederum hat dazu geführt, dass die Jobs immer maschinenähnlicher wurden. Wir haben also hart daran gearbeitet, unsere Arbeitswelt so maschinenzugreifbar wie möglich zu gestalten. Und nun kommen die Maschinen und übernehmen eine Tätigkeit, die sie viel besser können als wir. Ich frage mich ernsthaft, was daran so furchtbar schlecht sein soll.

Massenarbeitslosigkeit macht Ihnen keine Angst?

Also erstens gehören solche Umbrüche zum Wesen aller industriellen Revolutionen. Wenn Sie sich erinnern: Vor 100 Jahren haben noch über 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft gearbeitet, heute sind es noch zwei. Zweitens ist die Frage, ob uns danach wirklich die Arbeit ausgeht. Ich glaube nicht. Und drittens ist es doch so: Wenn wir uns darauf einigen könnten, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, mit großen Netzwerken und eben nicht linearen Beziehungen, dann passt unsere heutige Arbeitswelt überhaupt nicht zum Menschen. Und jetzt wird sie auf den Kopf gestellt. Weil diese entmenschlichte Arbeit zu einem großen Teil von etwas erledigt werden wird, das genau dafür gemacht worden ist. Nämlich von der Maschine.

Gut, dann lassen Sie uns einmal konkret werden. Wie kann man sich das ganz praktisch vorstellen, wenn die Maschine übernimmt?

Nehmen wir ein mittelständisches deutsches Unternehmen. Es lebt davon, dass es irgendetwas richtig gut kann. Und nicht nur das. Es weiß auch, warum es das kann. Das ist entscheidend. Denn wenn Sie wissen, warum Sie etwas können, dann berücksichtigen Sie immer die Gesamterfahrung eines Prozesses. Das ist die große Stärke des bestehenden Systems. Nun stellen Sie sich vor, sie könnten dieses Erfahrungswissen an eine Maschine transferieren und es multiplikativ anwenden. Sie könnten diese Maschine zu allem Möglichen einsetzen, etwa zur Administration von IT-Systemen, zur Berechnung von Versicherungen oder zur Optimierung von industriellen Fertigungsprozessen.

Sie sprechen von einer Künstlichen Intelligenz?

Richtig. Aber eben nicht in dem Sinne, wie der Begriff aktuell vor allem gebraucht wird.

Nämlich?

Zum Beispiel als Science-Fiction-Vorstellung einer Intelligenz in Form einer mit uns vergleichbaren Lebensform: die sich ihrer selbst bewusst ist, eigene Ziele anstrebt, Angst vor dem Sterben hat, vielleicht sogar lieben kann. Da kann ich Ihnen versichern: Diese sogenannten starke künstliche Intelligenz wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Daran arbeitet auch absolut niemand und ich kenne alle KI-Forschungsteams weltweit. Es ist einfach nach wie vor vollkommen schleierhaft, wie man ein solches System bauen könnte.

Und dann gibt es noch die künstlichen Jeopardy-, Schachund Go-Spieler, richtig?

Stimmt, das ist gewissermaßen das Gegenspektrum, die KI-Systeme, die ausschließlich darauf trainiert werden, etwas ganz besonderes zu tun, nämlich zum Beispiel Go spielen. Das sieht intelligent aus, ist im Grunde aber nichts weiter als Trial and Error. Hier geht es darum, ein gut beschriebenes kleines Problem möglichst intelligent zu lösen. Irgendwie magisch wirkt das nur deshalb, weil wir die Variablen, mit denen optimiert wird, nicht genau kennen.

Also, von welcher Art von KI sprechen Sie dann?

Ich nenne sie generelle Künstliche Intelligenz.

Und solche Systeme gibt es schon?

Ja, wir bei Arago und andere arbeiten daran.

Sie haben gesagt, solche Systeme können menschliche Erfahrungen aufnehmen und multiplikativ anwenden. Was kann man sich darunter genau vorstellen?

Stellen Sie sich vor, Ihre Zielvorgabe ist es, einen perfekten Kuchen zu backen. Dazu füttern sie das KI-System mit Erfahrungen – zum Beispiel wie viel Mehl verwendet werden muss oder wie viel Zucker in den Teig gehört. Es ist nun aber nicht so, dass es ausreicht, wenn ein Kuchen-Experte der Maschine erklärt, wie man Kuchen backt, denn so erhält man im Grunde nur ein Rezept und das muss nicht unbedingt das Beste sein. Das Geniale liegt ja im Detail – nämlich in der Diversität. Nur wenn Sie möglichst viele Variationen von möglichst vielen Bäckern kennen, lernen Sie, wie man den für Sie perfekten Kuchen backt. Genau deswegen hat man früher auch die Handwerker in die Welt hinausgeschickt, um von verschiedenen Meistern zu lernen und aus dieser Diversität heraus am Ende zu einer eigenen Praxis zu finden.

Welche praktischen Anwendungen gibt es denn schon für solche Systeme?

Nehmen Sie den Bereich industrielle Fertigung. Eigentlich ist es Standard, Roboter und Menschen im Arbeitsprozess streng zu trennen – aus nachvollziehbaren, sicherheitsrelevanten Gründen. KI-Systeme ermöglichen es der Maschine direkte Zielvorgaben oder Aufträge zu erteilen und sie mit ihrer unmittelbaren Umgebung interagieren zu lassen. Damit wird es für den Arbeiter nun doch möglich, direkt an und mit den Maschinen zu arbeiten.

Lassen Sie uns am Ende noch einmal von der Maschine zurück zum Menschen kommen. Wenn uns KI also die Zeit gibt, eine entmenschlichte Arbeitswelt wieder menschlicher zu machen: Wie gut sind wir eigentlich darauf vorbereitet?

Ich denke, Menschen sind besonders gut, wenn sie über ein möglichst breites Wissen verfügen. Das ist das, was uns stark macht. In diesem Sinne kann ich nur für mehr klassische Allgemeinbildung und weniger reine Spezialisierung plädieren. Es ist ja auch so, dass eine breite Wissensgrundlage eine wichtige Voraussetzung ist, um überhaupt denken zu lernen. Denken in dem Sinne, dass man sich seine eigene Meinung macht und nicht nur einfach das, was man irgendwo liest, teilt. Es wäre doch schön, wenn man zwei Informationen aufnimmt, selbst vielleicht noch drei im Kopf hat und etwas Geistreiches daraus ableiten könnte. Das hoffe und wünsche ich mir für die Zukunft.

Hans-Christian Boos
ist Mitbegründer und Chef von Arago, einem Hightech-Unternehmen, das sich auf das Themenfeld Künstliche Intelligenz spezialisiert hat.

Erschienen in: Economy 4.0 (Inpactmedia) als Beilage der Wirtschaftswoche am 17.11.2017.

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