Eine kleine Kulturgeschichte des Zockens

1.11.2013

Immer mehr Menschen spielen sie, immer mehr Menschen kaufen sie: Computerspiele, so heißt es, sind ein neues Leitmedium geworden. Aber wissen wir überhaupt, wovon genau wir sprechen, wenn wir über digitale Spiele reden?

An einem Hochsommertag im Jahr 1999 postiert sich Billy L. Mitchell vor einem Spieleautomaten des Funspot Family Fun Center in New Hampshire. Auf dem Gerät startet er ein Spiel, bei dem sich eine gelbe Scheibe durch ein von Monstern bevölkertes Labyrinth frisst: das legendäre Pac-Man.

Als Mitchell das Gerät sechs Stunden später wieder verlässt, hat er alle 255 Level des Spiels vollkommen fehlerfrei durchgespielt. Der Score zeigt den Höchststand von 3.333.360 Punkten, unter Pac-Man-Enthusiasten auch „perfect game“ genannt. „Jetzt muss ich dieses verdammte Spiel nie wieder anrühren“, soll der erschöpfte Champion nach seiner Meisterleistung erleichtert ausgerufen haben. 19 Jahre lang hatte er für den Rekord trainiert.

Spricht man Andreas Lange auf die Geschichte von Billy Mitchell an, nickt er nur. „Das ist ein wunderbares Beispiel für eine Flow-Erfahrung, wie sie sich immer dann einstellt, wenn man die Mechanik eines Games bestmöglich verinnerlicht hat.“ Andreas Lange ist Leiter des Computerspielemuseums Berlin, der größten Sammlung digitaler Spiele in Europa, und ein ausgewiesener Kenner dessen, was man eine „Kulturgeschichte des Computerspiels“ nennen könnte. Verrückte Jagden nach Highscores, so Lange, waren dem Wesen nach schon immer im digitalen Spiel angelegt.

Treiber für die Computerforschung

Der Medienwissenschaftler Claus Pias geht noch einen Schritt weiter und wagt die These: Im Kern ist jedes Computerspiel nichts anderes als die auf Effizienz getrimmte Kommunikation mit einer digitalen Maschine. Das sei auch kein Wunder, so Pias, ging es doch von Anfang an darum, eine Möglichkeit zu finden, wie Menschen und Maschinen überhaupt interagieren können: „Der Computer musste vermenschlicht, zugleich der Benutzer maschinisiert werden.“

Genau das nämlich war die Idee des amerikanischen Ingenieurs William Higinbotham, als er 1958 das wohl erste Computerspiel zusammenbastelte. Auf dem kleinen, runden Bildschirm eines Oszilloskops konnten zwei Spieler Tennis gegeneinander spielen. Präsentiert wurde Tennis for two, wie er das Spiel nannte, erstmals beim Tag der offenen Tür eines Forschungslabors in Upton, New York, an dem Hignibotham als Wissenschaftler arbeitete. Besucher sollten an die Welt der damaligen High-Tech herangeführt werden, die vielen Menschen noch höchst suspekt war. Das Spiel war ein Hit. Hignibotham hatte es mit vergleichsweise einfachen Mitteln geschafft, Menschen auf intuitive Weise mit Maschinen interagieren zu lassen.

Seit Tennis for two, schreibt der Medienwissenschaftler Mathias Mertens in seinem Buch Wir waren Space Invaders, tragen digitale Spiele ganz maßgeblich dazu bei, dass wir immer besser, immer kreativer mit Computern umgehen können. So wurden die Anfänge der Computerforschung am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston maßgeblich von der Bastelei an Computerspielen bestimmt. Hier wurde 1961 Spacewar! programmiert, ein Kampf zwischen zwei Raumschiffen im Weltall – und der Beginn einer Bewegung, wie Mertens schreibt: „Der faszinierendste Aspekt dieses Spiels war die Offenheit seiner Programmstruktur. Alle lernten obskure Programmiersprachen und brüteten über Algorithmen“. Spacewar!, so Mertens, wurde zu einem der ersten „Open Source“-Programme.

Medium interaktiven Erlebens

Wenn die Bastelei am Code die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine immer weiter optimierte, diente das vor allem einem Zweck: der Interaktion. Anfang der 1970er-Jahre sprang diese Vision dann auf ein anderes, damals noch weit populäreres technisches Medium über: das Fernsehen. Plötzlich hießen „Computerspiele“ auch „Videospiele“. Die Heimspielvideokonsole wurde erfunden, Spieleautomaten hielten Einzug in die Einkaufszentren. Digitale Spiele, die bis dato vor allem programmierkundigen Wissenschaftlern zur Verfügung standen, wurden zur Massenkultur.

Parallel dazu begann der Siegeszug des Personal Computers. Spielegenres differenzierten sich aus. Es ging nicht mehr nur darum, in Actionspielen schnell zu reagieren, sondern auch in Adventure-Spielen besonders clever zu entscheiden oder in Strategiespielen so weitsichtig wie möglich zu planen. Digitale Spiele wurden zum idealen Medium interaktiven Erlebens, zur perfekten Plattform eines lang gehegten Traums, in Geschichten eintauchen zu können, Fantasiewelten tatsächlich zu erleben, statt sie nur zu betrachten. Seien es die Romane von J.R.R. Tolkien, wie sie zum Beispiel das Adventure-Game Zork erlebbar machte, oder die Hollywood-Abenteuer eines Indiana Jones – in Gestalt einer Spielfigur namens Lara Croft.

Kreativität und Kontrolle

Mittlerweile sind Computerspiele längst im kulturellen Mainstream angekommen und von höchster Stelle anerkannt. „Es war schon beeindruckend zu sehen, wie einstimmig man sich 2007 im Bundestag auf die Einrichtung eines Computerspielpreises einigte“, erinnert sich Andreas Lange. Dennoch gibt es Vorbehalte. Sogenannte First Person Shooters, vulgo „Ballerspiele“, bei denen es weniger um das Nachvollziehen einer Geschichte, denn um möglichst effizientes Töten geht, werden als Gewaltverherrlichung kritisiert. Und auch das Schreckgespenst sozialer Verwahrlosung durch exzessives Spielen ist nach wie vor präsent.

Die große Vielfalt an Spielen, die extremen Unterschiede in der Motivation, diese zu spielen und die zunehmende Dynamik in der Art und Weise, wie Computerspiele von programmierkundigen Nutzern auf kreative Art „zweckentfremdet“ werden, machen es schwer, pauschal über Nutzen und Risiken zu urteilen. Einerseits, sagt Andreas Lange, haben digitale Spiele durchaus das Potenzial, positiv auf gesellschaftliche Entwicklungen einzuwirken: zum Beispiel, indem sie eine Alternative zu passivem Konsum aufzeigen. Gleichzeitig, auch das müsse man bedenken, entsprechen einige der Genres der Logik einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft. „Computer haben das Quantifizieren des Spielens perfektioniert.“ Schließlich trage jedes Computerspiel, so Lange, den Mechanismus in sich, Handlungen exakt messbar zu machen. Und arbeite damit im Grunde einem gesellschaftlichen Trend zu, unser Dasein zunehmend unter ökonomischen Gesichtspunkten zu beurteilen: Welche Techniken muss ich erlernen, welche Apps stehen mir zur Verfügung, um maximal gesund, glücklich und erfolgreich zu werden?

Als Pac-Man-Champion Bill Mitchell nach seinem Weltrekord gefragt wurde, was er nun vorhabe, soll er gesagt haben, er plane eine Karriere als Show-Spieler in Las Vegas. Ganz ohne den enormen Druck eines Spiele-Highscores.

Erschienen auf www.goethe.de im November 2013.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion
November 2013

Bild: Computerspiele Museum © Helran (via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)