Erst spielten Aktionskünstler mit Sport-Ritualen, nun wird Kunst-Sport breitentauglich. In Berlin fanden die Europameisterschaften im Schachboxen statt
Seit Beginn der Performancekunst in den 70er Jahren haben Aktionskünstler immer wieder versucht, den ästhetischen Wert ihrer Darbietungen durch körperliche Höchstleistungen zu steigern. Beim „Great Wall Walk“ von 1988 liefen sich Marina Abramovic und ihr Künstlerkollege und Liebhaber Ulay auf einer 90 tägigen Monsterwandung entlang der Chinesischem Mauer 2000 Kilometer entgegen. In einen seiner frühen Performances aus den 90er Jahren hangelte sich der Videokünster und muskelbepackte Ex-Leistungssportler Matthew Barney mit professionellem Klettergerät unter der Decke einer Galerie entlang.
Allerdings stand der Sport immer im Dienste der Kunst, und deshalb kamen weder Abramovic noch Barney auf die Idee, ihre anstrengenden Übungen auch dem interessierten Publikum zur Nachahmung zu empfehlen. Etwa in einem „Great Wall Contest“, bei dem trainierte Mauerläufer versuchen, den Abramovic/Ulay-Rekord zu unterbieten. Oder beim „Gallery Climbing“, um kletterbegeisterten Kunstfans den Genuss der Exponate aus exponierter Position zu ermöglichen.
Dagegen scheint heute, es mag am Fitness-Boom liegen, die Zeit reif zu sein, um aus Performancekunst tatsächlich neue Sportarten enstehen zu lassen. Es war vor zwei Jahren, als der holländische Aktionskünstler Iepe B.T. Rubingh einem Amsterdamer Clubpublikum erstmals eine neue, von ihm entwickelte „Sportart“ präsentierte: Das Schachboxen. Die Idee für die performative Zusammenführung dieser denkbar schwer kombinierbaren Disziplinen kam ihm vor Jahren beim Lesen einer schrägen Science-Fiction-Comicgeschichte des Belgrader Künstlers Ekin Bilal. Dort schlägt sich der Held Nikopol in einer Art postapokalyptischen Gladiatorenkampf im New York des Jahres 2095 zunächst im Boxring blutig, um seinen Gegner wenig später in einer Schachpartie zu bezwingen.
Das Amsterdamer Schachboxevent 2003, bei dem Rubingh selbst „Weltmeister“ im Mittelgewicht wurde, war noch reine Performancekunst, finanziert von zwei großen Niederländischen Kulturstiftungen. „Damals war es entscheidend, immer auch eine ironische Brechung zuzulassen. Wir waren beide einfach noch sehr amateurhaft in unseren Disziplinen. Der Fight war ein Kunst-Event“, sagt Rubingh heute. Das Spektakel begann mit einer vierminütigen Schachrunde, die die Kontrahenten auf einem kleinen Tisch mitten im Ring austrugen. Danach folgte eine zweiminütige Boxrunde. Dann ging es wieder zurück ans Brett. Rubingh gewann, weil seinem Gegner Louis „The Lawyer“ beim Schach die Zeit ausging. Jeder hat für insgesamt zwölf Runden Kampf nur 12 Minuten für seine Schachpartie zur Verfügung. The Lawyer, eigentlich der bessere Schachspieler, war in den Boxrunden heftig von Rubingh bearbeitet worden.
Doch schon bald war es Rubingh zu wenig, seinen „Sport“ nur als verrückte „Kunst-Performance“ zu präsentieren. Er knüpfte Kontakte zu Schach -und Boxvereinen, gründete einen Verein und heuerte eine Produktionsfirma an, die das Fun-Event als ernstzunehmenden Sport vermarkten sollten. „Für mich ist es wichtig, möglichst viele Menschen zu erreichen. Und das schaffe ich auch dadurch, den Begriff Kunst erstmal zu vermeiden.“ Der intellektuelle oder ästhetische Mehrwert, da ist Rubingh überzeugt, stellt sich beim Zusehen ohnehin automatisch ein. „Sobald du im Ring bist, gibt es ohnehin keine Ironie mehr. Da willst du einfach nur gewinnen. Und die Leute spüren das auch.“
Rubinghs Konzept scheint aufzugehen. Kürzlich fand im Berliner Club „Salon Ost“ der erste Schachbox-Europameisterschaftskampf im Schwergewicht statt. Die beiden Kontrahenten, der Berliner Andreas „D“ Schneider und sein bulgarischer Gegner Timohir „Tigertad“ Titschko, zählen schon zur nächsten Gegneration des noch jungen Sport-Projektes, die Rubingh über seine neu gegründete „World Chess Boxring Organistation“ rekrutiert: Erstklassige Schachspieler, teilweise sogar Weltklasse, dabei ebenso durchtrainierte wie ambitionierte Amateurboxer mit Kampferfahrung. Der Bulgare Titschko, der sich beim Titelkampf mit Figuren und Fäusten durchsetzte, gilt als einer der besten Bullet-Chess-Spieler der Welt: Eine einminütige Blitzschachvariante, bei der er jüngst in einem Internetturnier sogar Großmeister Kasparow bezwang. Und als er bei der ersten Boxrunde im Ring sein T-Shirt auszog, ging ein Raunen durch den Saal: Was für ein Herkules-Körper!
Natürlich waren sich auch die meisten Zuschauer im „Salon Ost“ nicht so ganz sicher, ob sie hier nun tatsächlich der Geburt einer neuen Sportart oder einem perfekt inszenierten Kunst-Event beiwohnen. „Was ist Ihrer Meinung hieran Kunst und was Sport?“, lautete eine der meist gestellten Fragen, mit denen sich Massen an enthusiastischen TV und Radiojournalisten durch das Publikum gruben. Immerhin, muss man sagen, Rubingh hat es geschafft, seine Schachboxevents zur perfekten Simulation einer Sportart aufzubauen: Der Kampf wird von professionellen Ringrichtern geleitet, die Schachpartie von Experten kommentiert, Wetten können abgegeben werden, ein Vorprogramm bietet Schaukämpfe aus beiden Disziplinen und vor Kampfbeginn erklingen feierlich die Nationalhymnen. Nur einmal blitzt der Schalk aus den Augen des Künstlers und weltweit ersten Schachbox-Promotors, wie er in Don King Manier neben seinem „Schützling“ Titschko in die Kameras grinst. Als „The Joker“ hat Rubingh vor Jahren große Verkehrskreuzungen in Berlin und Tokio mit einem Wirrwarr aus Baustellenband „abgesperrt“, und Passanten und Behörden genarrt. „The Joker“ ist auch sein Kampfname beim Schachboxen.
Erschienen in Süddeutsche Zeitung am 11. Oktober 2005.