Forum Bildung Digitalisierung – Fachtagung Lehrkräfte bilden für die digitale Welt

27.09.2018

Annika ist Anfang 30 und unterrichtet seit fünf Jahren Mathematik und Biologie in der Sekundarstufe I. Wie die meisten ihrer Generation nutzt sie digitale Medien ganz selbstverständlich im Alltag, streamt Filme über Netflix, kommuniziert über Facebook, WhatsApp oder Skype und sammelt Gesundheitsdaten mit einer Smart-Watch. In ihrem Unterricht spielt die Digitalisierung trotzdem bisher kaum eine Rolle. Zum einen ist sie eher kritisch – Smartphones beispielsweise haben für sie an der Schule nichts zu suchen. Zum anderen fühlt sie sich überfordert von den neuen Möglichkeiten digitalen Lernens und gleichzeitig auch ein wenig eingeschüchtert vom Wissensvorsprung vieler Schülerinnen und Schüler.

Annika gibt es nicht wirklich, sie ist eine fiktive Person, entstanden während eines Workshops der Fachtagung „Lehrkräfte bilden für die digitale Welt“ des Forum Bildung Digitalisierung, die am 27. September 2018 in Berlin stattfand. Rund 100 Bildungsexperten aus Forschung und Praxis hatten sich im Rahmen der Themenwoche „Shaping the Digitial Turn“ des Hochschulforum Digitalisierung im Allianz Forum am Pariser Platz zusammengefunden, um darüber ins Gespräch zu kommen, wie Lehrerinnen und Lehrer besser auf die Herausforderungen der Digitalisierung vorbereitet werden können. Am Ende war Annika nicht allein, insgesamt zehn Lehrer-Profile, sogenannte Personas, wurden von kleinen Teams unter Anleitung der Moderatorinnen der Initiative Neues Lernen e.V. erdacht, um eng am Schulalltag zu denken und alle Phasen der Lehrerbildung abzudecken – von Alexa, der 22-jährigen Studentin aus Halle, die aufgeschlossen gegenüber neuen Medien ist, aber Angst vor Konflikten und Fehlern hat, bis hin zum 39-jährigen Mathe- und Physiklehrer Olaf, der Digitalisierung vor allem als überschätzten Hype und Belastung empfindet.

Distanz zwischen Theorie und Praxis

Die Profile sollten helfen, die Distanz zwischen Theorie und Praxis zu überwinden, die trotz der vielen Studien und Initiativen zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht nach wie vor besteht. „Auf dem Papier gibt es eine Menge richtiger und guter Vorschläge, aber wir gehen die Umsetzung bislang viel zu zaghaft an“, fasste Nils Weichert, Vorstand des Forum Bildung Digitalisierung, die aktuelle Situation zusammen. Ähnlich formulierte es auch Michael Schratz, Gründungsdekan der School of Education der Universität Innsbruck, in seinem einleitenden Impulsvortrag: „Wir haben viel Wissen aber im Augenblick noch wenig Ahnung, wie wir es in den Schulalltag integrieren können.“

Laut Schratz liege das auch daran, dass viele Lehrende noch nicht recht erkannt hätten, was die digitale Transformation für den Unterricht tatsächlich bedeute. „Es geht hier nicht um Technik, sondern um ein neues Verständnis der Wissensvermittlung.“ Jahrzehntelang hätte der Unterricht auf einer Endlosschleife aus Fragen, Antworten und Bewertungen basiert, dem sogenannten IRE-Muster (Initiation, Response, Evaluation). Diese Struktur müsse man überwinden, heraustreten aus dem Setting des wissenden Lehrers, der Wissen an unwissende Schüler sendet.

Komplexe Mechanik des Lernens

Schratz forderte einen neuen Unterrichtsstil, der konsequent den Blick des Schülers einnimmt und für den er eigens einen neuen Begriff geprägt hat: lernseits. Dabei gehe es auch darum, der ebenso komplexen wie sensiblen Mechanik des Lernens Rechnung zu tragen. Lernen, zitiert Schratz die wunderbar tiefgründige Einsicht der Pädagogin Käte Meyer-Drawe, ist der Augenblick, an dem das Alte nicht mehr trägt und das Neue noch nicht wirkt und verwies auf den Konstruktivisten Heinz von Foerster, der Lernen als eine sehr persönliche, ja geradezu intime Erfahrung beschreibt. Für die zentrale Frage nach der praktischen Umsetzung dieses neuen lernseitigen Lehrens hatte der Bildungsforscher einen überraschend konkreten Ratschlag für die anwesenden Pädagoginnen und Pädagogen: „Stellen Sie mindestens einmal im Unterricht eine Frage, auf die Sie die Antwort nicht wissen. Und sofort haben Sie vom alten in den neuen Modus gewechselt.“

Die Anwesenden zeigten sich inspiriert, wenngleich nicht unkritisch. Er finde das alles zwar hochinteressant, so ein Hochschuldozent in der anschließenden Fragerunde. Dennoch wüsste er nicht recht, wie er den Anspruch eines neuen Lehrens in seinem Alltag umsetzen könne. „Fragen zu stellen, bei denen ich die Antwort nicht weiß, klingt sinnvoll. Aber bei Vorlesungen bin schließlich ich derjenige, der das Wissen hat und an meine Zuhörer weitervermittelt. Mir ist nicht klar, wie man an diesem Setting grundsätzlich etwas ändern kann.“

Chancen statt Probleme

Auch die anschließende Paneldiskussion zur Zukunft der Lehrkräftebildung in der digitalen Welt sah vor allem die Anbindung an die Lehrpraxis als größte Herausforderung. „Unser Problem ist nicht, dass wir das Ziel nicht kennen“, so Heike Schaumberg vom Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. „Wir wissen inzwischen sehr gut, welche Kompetenzen wir bei Lehrenden fördern müssen, um sie fit zu machen für die Herausforderungen der Digitalisierung. Woran es uns aber noch fehlt, sind Methoden, diese Kompetenzen zu entwickeln.“

Dabei sind Kompetenzen für Schaumberg mehr als nur Wissen. „Für mich geht es hier weniger um den Erwerb von Fachkompetenzen als um Haltung, Motivation, Selbstvertrauen und Innovationsbereitschaft – also den Mut, Dinge anders zu machen.“ Daran knüpfte auch Christine Redecker von der Gemeinsamen Forschungsstelle (JRC) der Europäischen Kommission an. „Um die Haltung der Lehrenden zu verändern, ist es ganz wichtig, nicht immer nur in Problemen zu denken, wie wir das vor allem hier in Deutschland gerne tun, sondern in Chancen. Wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, in der das Modell, einer steht vorne und alle anderen hören zu, nicht mehr funktioniert. Und das ist auch gut so.“

Neue Ideen mit Design Thinking

Was es wirklich bedeuten könnte, einmal eher in Chancen zu denken, Ideen out of the box zu entwickeln, ohne sich gleich von Problemen entmutigen zu lassen, erlebten die Teilnehmenden dann schließlich in jenen Workshops, in deren Rahmen auch die Lehrerprofile von Annika, Alexa und Co. entstanden. Mithilfe der Methode des Design Thinkings, einer Kreativtechnik aus der Welt des Produktdesigns, die stark aus der Sicht des Nutzers denkt, machten sich zehn kleine Teams daran, Lösungen zu entwickeln, wie Digitalisierung in Schulen gelingen kann.

Das zahlte sich aus. Bei den Pitches am Ende Veranstaltung war von Praxisferne nichts mehr zu spüren. Ein Projekt namens „Zeit für Digitales“ schlug vor, die Prüfungsordnung für Referendare zu ändern, um Ihnen mehr Raum zu geben, mit digitalen Medien zu experimentieren. „Wander-Coaching“ nannte ein weiteres Team ihre Idee, geschulte Lehrkräfte von Schule zu Schule zu schicken und Kolleginnen und Kollegen für die Möglichkeiten der Digitalisierung zu begeistern.

Und sogar Annika hatte ihren Auftritt, live auf der Bühne, verkörpert von der Teilnehmerin eines Teams, das das Konzept einer digitalen Tupperparty vorstellte. „Ich bin da von einer Kollegin eingeladen worden“, berichtete sie dem Publikum. „Man trifft sich, darf ein bisschen was ausprobieren, lernt Tools kennen, es gibt Käse und Wein. Vielleicht mach ich das auch mal bei mir.“ Konkreter und alltagsnäher geht es kaum. Das fand auch das Publikum – und wählte die Tupperparty zum Pitch mit dem höchsten Potenzial.