Fremdkörper, Eindringling

19.04.2004

Ein kulturwissenschaftlicher Sammelband beschäftigt sich mit dem Virus als Objekt und Metapher

Viren sind überall. Lange schon zirkulieren sie nicht mehr nur als biologische Erreger, sondern ebenso als elektronische Schädlinge, Computerviren. Und die Hysterie, die sie auslösen, ist selbst zu einem „Wort-Virus“ geworden, das sich wie im Falle von Sars oder Anthrax durch die global vernetzten Medien ausbreitet und oft größeren Schaden anrichtet, als die wirkliche Krankheit. Ein von der Amerikanistin Ruth Mayer und der Kulturwissenschaftlerin Brigitte Weingart herausgegebener Sammelband versucht nun, das wissenschaftliche Objekt „Virus“ von dem Begriff „Virus“ klar zu unterscheiden und dessen Verwendung in verschiedenen Diskursen nachzuzeichnen.

Der Band beginnt mit einem Beitrag des Medientheoretiker Cornelius Borck über die Geschichte des wissenschaftlichen Begriffs „Virus“. Schon der vermeintlich exakte biologische Begriff „Virus“, so Borck, ist ein von der Informatik inspiriertes Hilfskonstrukt. Das bekannte Modell des protein-umhüllten Informationspakets, das sich in Zellen kopiert und dort vervielfältigt, ist selbst nur eine Metapher, die Biologen aus dem Sprachschatz der Informatiker übernommen hatten, als sich die beiden Disziplinen in den 50er Jahren zum ersten Mal annäherten. Borck bereitet damit glänzend die zentrale Frage vor, die die folgenden Beiträge versuchen zu beantworten: Wenn sich das biologische Modell des Virus als feindlich – subversives Element gar nicht ausschließlich wissenschaftlich legitimieren lässt, wie ist es dann entstanden und was bedeutet das für alle weiteren Verwendungen des Begriffes in fachfremden, zum Beispiel politischen Diskursen?

Von der Angst vor der Epidemie…

Das Bild des Virus als subversiver Fremdkörper, so der Medizinhistoriker Martin Dinges, speist sich zu einem großen Teil aus den jahrtausendealten „Seuchennarrativen“, die die Menschheit lange vor der Entdeckung von Bakterien und Viren aus Angst vor Epidemien entwickelt haben. Besonders während der großen Pestwellen im 14. Jahrhundert begann man, soziale Randgruppen als Träger der Krankheit zu identifizieren. Hier liegt der Ursprung für das Phantom des „fremden Eindringlings“ und für die Angst, die von ihm ausgeht.

Das ist auch die Quelle für virale Metaphern in der Politik, wie sie seit dem 11. September von der amerikanischen Regierung gebraucht werden. Dies berichtet Sheldon Watts in seinem Beitrag über die „globale Geschichte der Pocken“. Die Angst, so seine These, die die Bush-Regierung vor einem terroristischen Anschlag mit Pockenviren geschürt hat, muss als politisches Druckmittel dechiffriert werden, das mit der realen Bedrohung wenig zu tun hat. Selbst wenn es wirklich zum Ausbruch der Krankheit käme, wäre die globale Hysterie ein größeres Problem als die Krankheit selbst. Das bleibt natürlich streitbar.

Immerhin kann Philip Sarasin in einer Studie über die Anthrax-Anschläge sehr überzeugend nachweisen, dass die Angst vor einem Anschlag hier der eigentliche Erreger war, der sich wie ein „Medienvirus“ durch die globalen Informationskanäle bewegte. Dabei geht es ihm vor allem darum, die Furcht vor bioterroristischen Anschlägen als „Phantasma“ und politisches Kontrollinstrument rassistischen Ursprungs lesbar zu machen. Auf dieser Idee beruht auch sein kürzlich bei Suhrkamp veröffentlichter längerer Essay Anthrax. Bioterror als Phantasma.

„Ansteckende Worte, die sich wie Viren ausbreiten“ – das erinnert natürlich an die bekannte Rede von Gerüchten, die sich nach dem Modell einer Epidemie ausbreiteten. Dieser Metapher des „Sprach-Virus“ geht Hans-Joachim Neubauer, Journalist und Autor einer Geschichte der Gerüchte, nach. Wer aber denkt, hier eine weitere Legitimation dafür zu finden, das Wort Virus selbst als „Sprach-Virus“ zu konzeptualisieren, sieht sich getäuscht. Am Ende seines vielversprechend klingenden Beitrags „Soziales Fieber. Metaphern und Modelle des Gerüchts“ kommt Neubauer zu dem ernüchternden Schluss, dass es doch wenig Sinn habe, das Gerücht als einen Krankheitserreger zu denken, der sich aktiv von Träger zu Träger ausbreitet. Denn tatsächlich sei ja nicht das Gerücht aktiv, sondern sind es allein diejenigen, die es kommunizieren.

Interessanterweise liegt die Stärke des Bandes ohnehin weniger in der Etablierung von „Wort Viren“ als kulturwissenschaftlichem Untersuchungsobjekt, wie es von den Herausgeberinnen im Vorwort gefordert wird, als in einer Dekonstruktion des vermeintlich exakten wissenschaftlichen Begriffs „Virus“.

… bis zum Computerschädling

Erwähnenswert ist hierbei vor allem der Beitrag Hilmar Schmunds zur Geschichte des Computervirus. Durch die Wechselwirkung zwischen Biologie und Informatik in den 50er Jahren, so Schmund, entstanden die Modelle „biologisches Virus“ und „Computervirus“ quasi gleichzeitig: Kurz nachdem man begann, das biologische Virus als sich selbst kopierende genetische Information zu beschreiben, ließ der Mathematiker John von Neumann sich dadurch zu einer „Theorie selbst-reproduzierender Automaten“ inspirieren, in der er alle heutigen Computerviren theoretisch vorweg nahm. Biologische Viren, so Schmund weiter, wurden so lange als eine Art Computervirus beschrieben, bis man es schließlich mit einer ernst zu nehmenden Plage elektronischer Schädlinge zu tun bekam.

Auch wer nicht an „Wort-Viren“ glaubt, dem wird dadurch doch klar: Das Modell des Virus als feindlicher, subversiver Schädling ist ein Konstrukt. Und es ist überholt. Jeder der das Wort „Virus“ in dieser Bedeutung verwendet, insbesondere um eine bestimmte Rhetorik der Grenzziehung zu etablieren (wie die amerikanischen Regierung nach dem 11. September), agiert auf der Grundlage eines sozialen Modells, das sich scheinbar über die wissenschaftliche Beschreibung epidemischer Krankheiten legitimiert, aber in Wirklichkeit wenig mit der Seuche selbst zu tun hat. Es ist die große Leistung des Bandes, dies aufzuzeigen.

Erschienen in Frankfurter Rundschau am 19. April 2004.