Frog und Hopp
Jetzt, nachdem die Grimmschen Märchen zum Weltdokumentenerbe erklärt wurden, scheint es an der Zeit, einmal auf eine merkwürdige Fehlinterpretation hinzuweisen, die sich schon seit längerem in die Kolportage einer äußerst bekannten Grimm-Story eingeschlichen zu haben scheint. Die Mär vom Froschkönig.
Wie war das noch gleich? Eine Prinzessin macht einen etwas leichtfertigen Deal mit einem eher unattraktiven Prollpaket, sprich Frosch, und muss dafür gerade stehen. Und zwar in Form von Ekelprüfungen, die sich in fein abgestimmter Dramaturgie immer weiter steigern. Man erinnert sich: Mitkommen zu den Eltern will er, der peinliche Glitsch. Auf den Tisch gehoben werden. Und dann auch noch mit ins Bett. (Eine Bürde, die nicht einmal Christian Ulmen seinen Opfern bei „Mein neuer Freund“ zumutet.) Und wie reagiert die Königstochter? Knirscht mit den Zähnen, erträgt alles und am Ende geht sie sogar ins Bett mit der Kröte, äh, küsst den Frosch. Und, natürlich, wird dafür belohnt. Nein, nicht mit 10 000 Euro, sondern mit einer unglaublichen Prinzenverwandlungsshow, inklusive beeindruckender Soundeffekte („Heinrich, der Wagen bricht!“).
Nun weiß man um die Tatsachen verdrehende Kraft der Erinnerung. Wie lange hat man Falcos Kommissar-Hit mit Dadideldum im Refrain vor sich hingesummt, bis Jahre später plötzlich klarwurde: Dradinedum , also Wiener Slang und nicht Babysprache, wurde da gesungen. Was das mit dem Froschkönig zu tun hat? Nun, die zentrale Szene, die Knutscherei mit der Kröte: Alles ein riesen Missverständnis. Denn nichts dergleichen findet statt! Ein Blick ins Original belegt: Nicht grenzüberschreitende Liebkosung, sondern brutalstmögliche, königstochterseits ausgeführte Exekutionstechnik erweckt den Prinzen zum Leben: Da ward sie bitterböse und warf ihn mit aller Kraft gegen die Wand.
Das ändert im Grunde alles! In Wahrheit besteht die Prinzessin also keine Mutprobe, sondern entzieht sich ihren Verpflichtungen – auf eine zwar irgendwie verständliche, aber auch extrem feige Art. Und wird zu allem Überfluss auch noch dafür belohnt. Ein unerhörter Widerspruch, dessen Auflösung vielleicht nur mit einer guten Dosis Tiefenpsychologie zu leisten wäre. Eugen Drewermann, ein Kenner dieses Faches, bietet folgende Interpretation: Der Frosch repräsentiere einen verwöhnten jungen Mann, völlig unfähig, mit Frauen umzugehen. Die Prinzessin dagegen eine patente junge Dame, die gerade zum Leben erwacht. Einen richtigen Mann also, versteht man Drewermann richtig, braucht die Tochter. Auf keinen Fall aber einen verweichlichten Waschlappen der Marke weiser Mahner, wie Papa König: Wer dir geholfen hat als du in der Not warst, den sollst du hernach nicht verachten. Der Froschwurf ist ein Befreiungsschlag.
Zugegeben, eine in sich schlüssige Erklärung, aber aus verständlichen Gründen leider pädagogisch völlig unbrauchbar. Dagegen ist die Kuss-Variante eine saubere Sache und vermutlich gerade deswegen auch so weit verbreitet. Ein Trend zur Harmonie allerdings, der nicht ewig bestehen muss. Die Frösche, mit denen es Töchter im Märchenalter gerade vornehmlich zu tun haben, würden vermutlich einige Väter liebend gerne zum Wurf gegen die Burgmauer freigeben: Crazy frog im Jamba-Klingeltonabo lässt schön grüßen!
Erschienen in Süddeutsche Zeitung am 27. Juni 2005.