Lach- und Sachgeschichten

17.11.2010

Rafael Horzon ist Möbelunternehmer, Künstler und einer der cleversten Hipster Berlins. Sein gerade bei Suhrkamp erschienenes Werk „Das weisse Buch“ beweist es.

Im Eliteinternat Schloss Salem am Bodensee gab es, so erzählt man sich, vor Jahren einmal eine ziemlich perfide Art und Weise, Neuankömmlinge zu foppen. Jeder Jahrgang traf untereinander die Vereinbarung, alles, was man sich untereinander erzählt, entweder durchweg wortwörtlich oder ironisch zu verstehen. Wenn man also als Neuer in eine Klasse kam, hatte man zunächst nicht die geringste Ahnung, ob entscheidende Feststellungen wie „Dieunddie Band ist supercool“ eben genau das bedeuten, oder aber das exakte Gegenteil. Wer sich nicht zum kompletten Deppen machen wollte, tat gut daran, möglichst zügig den Sprachcode seiner Mitschüler zu entschlüsseln und selbst zu verinnerlichen.

Es ist nicht besonders schwer, sich vorzustellen, dass auch Rafael Horzon, wie seine Schriftstellerfreunde Christian Kracht oder Moritz von Uslar, in Salem zur Schule ging. Der Berliner Designer, Künstler und Unternehmer liebt es, sich als Dandy zu inszenieren, ist fantastisch vernetzt und vor allem: er vermag es, so virtuos zwischen Ironie und Ernst zu wechseln, dass man annehmen könnte, er würde schon seit Schulzeiten daran üben. So gibt er als Leiter einer sogenannten „Wissenschaftsakademie“ selbstgebastelte Diplome aus, schafft es aber gleichzeitig, renommierte Dozenten einzuladen. Oder gründet als „Möbelunternehmer“ eine Firma mit nur einem Produkt (Slogan: „Jetzt noch weniger Auswahl!“), behauptet größenwahnsinnig, IKEA damit vom Markt zu verdrängen, verkauft aber tatsächlich eine ansehnliche Stückzahl.

Diese sehr spezielle Mischung aus lässiger Hochstapelei und zielstrebigem Schaffensdrang hat Rafael Horzon so stadtbekannt und einflussreich gemacht, dass nun selbst der Suhrkamp Verlag nicht widerstehen konnte, ihn bei seinem allerneusten Projekt tätlich zu unterstützen: der Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte als „Sachbuch“, unter anderem erhältlich in einer eigens dafür eröffneten „Sach- und Fachbuchhandlung“, die, man ahnt es, ausschließlich dieses eine Buch im Angebot hat.

Und so ist „Das weisse Buch“ zunächst einmal ein grandios inszenierter Fake und die angeblich wahrheitsgetreue Wiedergabe der Erlebnisse des Autors ein liebevoll ausgearbeiteter Schelmenroman mit münchhausenschem Lügenpotential. Der Erzähler, Ex-Lieblingsschüler von Derrida, stolpert durch die Welt und vor allem durch Berlin, lernt dort ausnahmslos Maler, Designer, Musiker, Galeristen und Schriftsteller kennen, die entweder schon berühmt sind oder gerade auf dem Weg es zu werden, segelt im Urlaub mit einem Ruderboot von Nizza nach Cannes und verkauft es dort als Yacht und wird in regelmäßigen Abständen von einer hässlichen Georgischen Wahrsagerin heimgesucht, die sich in sein Leben morpht wie die Agenten in die Matrix.

Das ist wunderbar flüssig und stilsicher geschrieben, mit feinem Sinn für Humor und Liebe zu kleinen, wunderbar grotesken Miniaturen. „Wochenlang ernährte ich mich aus Geldnot zur von Eiweisspulver und Haferflocken, die ich, um teures Wasser zu sparen, trocken miteinander vermengte und einatmete.“ Man könnte das „weisse Buch“ mit seinem schicken vollkommen weißen Cover nun also locker auf dem Coachtisch drapieren und Freunden bei Gelegenheit enthusiastisch und mit Lachtränen in den Augen die besten Szenen rezitieren.

Doch wirklich interessant wird das Buch erst, wenn man es tatsächlich als „Sachbuch“ liest, zum Beispiel als Zeitdokument einer wunderlichen Karriere, die man so vielleicht nur in Berlin Mitte der letzten fünfzehn Jahre hätte machen können. Denn hinter all den genialen Flunkereien stecken dann doch erstaunlich viele Fakten und man würde sich wundern, wie viele der vermeintlichen Hochstapeleien sich als erstaunlich konsequent durchgezogene Projekte entpuppen, wenn man nur parallel zur Lektüre ein bisschen herumgoogelt. Rafael Horzon gründet eine deutsch-japanische Fake-Galerie, um den Kunstbetrieb zu foppen und wird dann doch zur Documenta eingeladen? Stimmt tatsächlich. Rafael Horzon verpflichtet reihenweise „Praktikanten“ für seine Projekte, die Jahre später zu gefeierten Künstlerstars aufsteigen? Stimmt auch. Rafael Horzon lässt sich von Schriftsteller Christian Kracht dabei helfen, die in seinem Möbelladen bestellten Regale an Kunden zu liefern? Ist nicht erfunden.

Die wunderliche Entlarvung des Lügenromans als, wenigstens zum Teil, geschickt fikionalisierte aber wirklich erlebte Geschichte ist das eine. Doch auch in einem anderen Sinn macht „Das weisse Buch“ als „Sachbuch“ eine ganz gute Figur. Denn Horzon genügt sich nicht einfach darin zu beschreiben, sondern liefert eine überraschend elaborierte Theorie dafür, was von all seinen Aktionen denn eigentlich zu halten sei. „Interessante Dinge tun, die keine Kunst sind“, lautet das Credo einer von ihm angestrebten Theorie der „Neuen Wirklichkeit“, die im Buch oft und gerne herbeizitiert wird. Das klingt nach wirrem Scientologie-Sprech, ist aber im Grunde einfach eine ziemlich clevere Umschreibung dessen, was jede künstlerische Avantgarde der letzten hundert Jahre umtreibt: Die Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis. Oder in Horzons Worten: „…deshalb ist natürlich alles, was ein Mensch zu Kunst erklärt, auch tatsächlich Kunst. Aber genauso gut ist alles, was ein Mensch nicht zu Kunst erklärt, keine Kunst. Und wenn ich diesen Möbelladen nun nicht zu Kunst erkläre, sondern zu einem Möbelladen, dann ist er natürlich auch keine Kunst, sondern ein Möbelladen.“

Es scheint so, als ob Horzon seinen Projekten gerade durch den Kniff des behauptetes Nicht-Kunst-Seins den notwendigen Drive geben will, um überhaupt noch als interessante Aktionen wahrgenommen zu werden. Wohlgemerkt in einer Stadt wie Berlin, die sich mittlerweile regelrecht überflutet ist von Künstlern und derem leider oft belanglosem Output.

Darüberhinaus spricht eigentlich nichts dagegen, den allen seinen bisherigen Unternehmungen zugrundeliegenden Willen zur Verschönerung der Welt zur Abwechslung einmal richtig ernst zu nehmen. Vielleicht nicht gerade in Form seiner Firma „Belfas“, die Holzelemente für die Einheitsverschalung sämtlicher Berliner Hausfassaden herstellt. Vielleicht auch nicht unbedingt in Bezug auf „Redesigndeutschland“, eines Horzon Projektes zur Neugestaltung aller Lebensbereiche („Die Sprache. Die Zeit. Die Kleidung. Die Nahrung. Die Währung. Die Gesellschaftsform.“). Sondern eher in Sinne jener ungeheuer charmanten, geistreichen und heilsam selbstironischen Art und Weise, wie der Held im „weissen Buch“ durchs Leben spaziert.

Bild: © Knoll Nicolai (via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)