Kritik einer Kulturtechnik: Warum Yoga sowohl die Sehnsüchte als auch die Disziplin der Moderne verkörpert
Kein Zweifel: Übung macht den Meister. Seit einiger Zeit weiß man sogar genau, wie viel Zeit man investieren muss, um in einer Sache richtig gut zu werden: 10 000 Stunden, wie der amerikanische Bestsellerautor Malcolm Gladwell in „Die Überflieger“ schreibt. Der Philosoph Peter Sloterdijk geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, erst die Übung mache den Menschen überhaupt zum Menschen. Die Religionen? Alles verkappte Übungssysteme!
Trotzdem wird man den Eindruck nicht los, dass das permanente An-Sich-Arbeiten in letzter Zeit etwas überhand nimmt. Nicht nur virtuose Feinmotorik, geniale Gehirnakrobatik oder sensationelle Geschäftstüchtigkeit, sondern selbst das gesunde, erfüllte, glückliche Leben werden immer mehr zu einer Frage der Disziplin. Und zwar im wörtlichen Sinne: Gummimatte ausrollen, Vorbeuge, Rückbeuge, Atmen, am besten jeden Tag eine Stunde. Die Verwandlung, sagt man, soll spektakulär sein. Der Geist wird ruhiger, der Körper gesünder, das Dasein sinnvoller.
Unter dem Label Yoga ist diese geheimnisvolle Körpertechnik längst zum festen Bestandteil urbanen Lebens geworden. Fast vier Millionen Deutsche verbiegen sich regelmäßig zur angeblich lebensqualitätssteigernden Glücksgymnastik, und es werden laufend mehr. In Hotspots wie Berlin-Mitte ist das Atmen und Dehnen längst zum Lifestyle-Accessoire für die trendbewusste Mittelschicht geworden. Es scheint eigentlich überhaupt keinen Grund mehr zu geben, nicht Yoga zu machen.
Dabei ist Yoga alles andere als unproblematisch. Wenn sich etwas so perfekt in die Bedürfniswelt des urbanen Leistungsträgers einpasst, so der Verdacht, dann muss es irgendwie auch Teil dieser Welt sein. Eine Körpertechnik wie Yoga sei immer mehr als nur bloßes Gliedertraining, schreibt der Medienwissenschaftler Erhard Schüttpelz, sondern Teil eines „Plasmas, in dem Medien, Körper und Personen miteinander verschmelzen“. Und es ist nicht gar nicht so leicht, diesen heißen Brei zu goutieren, ohne sich daran zu verbrennen.
Der Journalist Mathias Tietke beobachtet die Yoga-Szene seit Jahren und kann sich nur wundern über die merkwürdige Verschränkung von Spiritualität, Leistungskult und Marketing. „Ich weiß aus Berlin, dass Lehrer in der Charité vorstellig werden, weil sie, aufgrund einer forcierten Praxis, unter massiven Gelenkproblemen leiden.“ So scheint es auch vielen Schülern zu gehen, die voller Elan in die verschiedenen Spielarten des körperbetonten Hatha-Yogas einsteigen. Für Tietke ist das vor allem Effekt einer gezielten Marketingstrategie. So werde Hatha-Yoga als harmonische Zusammenführung von Sonne (Ha) und Mond (Tha) angepriesen, obwohl man das Sanskrit-Wort nicht auf diese Art übersetzen könne. Korrekt wiedergegeben bedeutet Hatha „Zwang, Gewalt und Anstrengung“. Was sich in einem schicken Yoga-Flyer dann doch eher sperrig läse.
Dabei hat Tietke mit seiner Kritik nur einen kleinen Teil einer ausdifferenzierten Szene im Fokus: Trademark-Yoga, also all jene Stile, die aus der Kombination von Altem und Neuen ein besonders markttaugliches Produkt bilden, sei es durch die Idee, in aufgeheizten Räumen zu trainieren (Bikram), sich zu Musik zu bewegen (Jivamukti) oder nachhaltig Muskelmasse zuzulegen (Power Yoga). Aber auch in der Beschäftigung mit der sogenannten „traditionellen Yogapraxis“, wie sie oft als Gegenpol zu moderneren Formen angeführt wird, stößt man schnell auf Ungereimtheiten.
„Den sogenannten traditionellen Yoga gibt es schon seit über hundert Jahren nicht mehr“, sagt Karl Baier, Professor für Religionswissenschaft in Wien. „Wenn man heute von Yoga spricht, dann bezieht man sich auf moderne Formen, wie sie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts gleichzeitig in Indien, Amerika und Europa herausgebildet haben.“ Was wiederum nicht unerheblich ist für die Beurteilung des Kultes, der um einen ungefähr zweitausend Jahre alten Sanskrit-Text eines indischen Gelehrten namens Patanjali gemacht wird.
Das sogenannte Yoga-Sutra ist der wichtigste Referenzpunkt der Szene, seine Begriffe werden herauf- und herunterinterpretiert, seine schlichten Sinnsprüche als Essenz der Lehre verehrt. Doch der Text beschreibt ein spirituelles Übungssystem aus dem Altertum, das seit Generationen nicht mehr praktiziert wird, entwickelt für religiöse Vollprofis zum Zweck asketischer Grenzerfahrungen.
Eine Technik für weltentsagende Asketen, die ihr gesamtes Leben dem totalen Herausmeditieren des Egos aus der materiellen Welt widmen, in ein Übungsprogramm für die harmonische Wiederausrichtung des gestressten modernen Großstadtmenschen zu verwandeln, ist nicht ganz einfach. So wurde laut Baier der Patanjali-Begriff „Nirodha“ als „zur Ruhe kommen“ des unruhigen Geistes erst dadurch zum Alleinstellungsmerkmal des modernen Yoga, dass man eine naheliegende Übersetzung, nämlich „Auslöschung der geistigen Bewegung“, unter den Tisch fallen ließ.
Es gibt allerdings auch viele, die mit diesen Deutungsfragen gar keine Probleme haben. „Für mich bedeutet die zentrale Stelle bei Patanjali Freiwerden von den Wellen des Gemüts“, sagt Patricia Thielemann, Leiterin von Spirit Yoga in Berlin, einem der angesehensten Studios der Stadt, in dessen Kurse die kreative Elite pilgert. „Man muss eben in dieser leistungsorientierten Gesellschaft bestehen. Durch Yoga kann man lernen, mit mehr Leichtigkeit Durchhaltevermögen zu entwickeln.“
Ein Rezept, das mit fast beängstigender Präzision auf die Bedürfnisse eines neuen Bürgertums zugeschnitten ist, wie Isabelle Graw, Chefredakteurin von „Texte zur Kunst“ und bekennender Yoga-Fan, in ihrem Blog schreibt: „Es sind letztlich zwei dem Hang des Neoliberalismus zur Individualisierung sämtlicher Probleme entsprechende Aufforderungen, die im Yoga zusammenfließen – die Aufforderung ‚bei sich zu bleiben‘, sowie die Aufforderung, über seine Grenzen hinauszugehen.“ Auch Graws Lehrerin, die Autorin Kristin Rübsamen („Alles ist erleuchtet“), erkennt als Hauptmotivation oft den Wunsch nach Überschaubarkeit und Kontrolle.
Solange Yoga-Konzepte sich – wie im Falle von Thielemanns Spirit-Yoga – Mühe geben, „Lebenskraft in einem Menschen zu nähren, ohne zu schwafeln“, wirkt das immerhin stimmig. Oft scheint aber gerade die Verquirlung von uralten Meditationsanleitungen mit Body-Wellness das Hauptmerkmal moderner Yogastile zu sein. Das vielleicht eindrücklichste Beispiel hierfür ist Jivamukti-Yoga, eine Art hipper Hollywood-Variante aus dem New York der achtziger Jahre, zunächst als schräge Randerscheinung verspottet, mittlerweile aber zum Massenphänomen avanciert.
An die 700 Teilnehmer pilgern zu den Workshops, die die Gründer (Ex-Tänzerin und Ex-Künstler) alljährlich in Städten wie München und Berlin anbieten. Die Art und Weise, wie die beiden Jivamukti Gurus Sharon Gannon und David Life die „Befreiung der Seele“ auf solchen Meetings präsentieren, ist, zumindest für Uneingeweihte, ein Ereignis: Negative Energien werden mit Körperdrehungen ausgewaschen („your internal washing Maschine“), Probleme mit Mitmenschen durch Rückbeugen ausgeräumt, Partnerschaften mit Vorbeugen gefestigt. Kopfstände helfen gegen das Alleinsein, denn sie verbinden uns mit dem Kosmos. Was sich wie Spinnerei anhört, hat seine Wurzeln im Tantrismus, einer alchemistischen Praxis aus dem 5. Jahrhundert.
Nur, was haben diese Ideen einer asketischen Disziplinartechnik in einem Berliner Loft zu suchen, in dem zweihundert Menschen sich zu Grandmaster Flash in Sonnengrüße verbiegen? Nichts, möchte man sich wünschen. Wenn es da nicht diese Geschichten von den Charité-Kandidaten gäbe, von denen, die es übertrieben haben mit dem Üben, die regelrecht „asozial“ werden durch die Praxis (Kristin Rübesamen). Fast jeder, der länger Yoga macht, kennt solche Geschichten, oder hat sie sogar am eigenen Leib erfahren müssen.
Es ist natürlich tragisch, wenn gerade diejenigen, die mit besonderem Eifer am Ruhigwerden ihres Geistes arbeiten, sich in Wahrheit in einer für Asketen entwickelten Übungsformel verfangen – und bei der eben nicht die gewünschte Alternative zur verhassten Leistungsgesellschaft, sondern deren bedingungslose Huldigung herauskommt. Eine Fortsetzung des Disziplinarsystems Büroalltag im Disziplinarsystem Yoga.
Im selben Buch jedenfalls, in dem Malcolm Gladwell von den 10 000 Übungsstunden bis zur Meisterschaft berichtet, gibt es auch noch eine andere Geschichte. In den 60er Jahren erlangte eine kleinen Stadt italienischer Einwanderer in Pennsylvania einige Berühmtheit, weil die Einwohner bis ins hohe Alter gesund und zufrieden blieben, obwohl sie genauso wenig Sport machten, genauso fettig aßen und genauso viel rauchten wie andere. Was war ihre magische Technik? Sie statteten sich Besuche ab, luden sich zum Grillen ein, unterhielten sich auf der Straße und schufen eine „robuste Sozialstruktur, die sie vor Belastungen der modernen Welt beschützte“. Auch ein Ausdruck tiefer, archaischer Weisheit.
Erschienen in Die Welt am 11. Mai 2011