Quälen an der Quelle

22.03.2005

Seit Linux im neuen Gewand ganz Windows-ähnlich bedienbar ist, stellt es eine echte Alternative zu Microsofts übermächtigem Betriebssystem dar. Soweit die Legende. In Wahrheit, davon ist SPIEGELONLINE-Autor Klaus Lüber überzeugt, überfordert das Open-Source-Betriebssystem seine User.

Mocky76 gab ihm den entscheidenden Tipp. „Lad dir das Sourcecode-Archiv runter und kompilier dirs Modul selbst. Dann funzts.“ So kommunizieren User im Forum. Kein Wort zuviel, kein Fachdeutsch zu szenig.

Zwei Wochen später dann Raptors Antwort: „War harte Arbeit, aber jetzt geht’s!“ Er habe einfach das „linmodem-Modul heruntergeladen“, danach ein „System-Update“ durchgeführt, da die „Kernel-Version nicht mit seinen Kernel-Sourcen übereingestimmt hatten“, und schließlich das „Modul neu gebaut“ und „gegen den Kernel kompiliert“.

Kaum zu glauben, aber Raptor und Mocky76 sind keine Computerfreaks. Über die Probleme, mit denen sie sich herumschlagen, würde ein Profi nur müde lächeln. Raptor und Mocky76 sind gewöhnliche Computer-Nutzer, die sich in einem Internetforum über profane Dinge wie kaputte Modems, streikende USB-Sticks oder schweigende Drucker austauschen. Aber wozu dann der gewaltige Aufwand, die wochenlange Quälerei, der angelernte Hacker-Jargon, die Code-Namen?

Linux: Retter in der Not

Für Raptor alias Karl, 31, begann alles vor einem Jahr. Auf seinem Laptop hatte ein Virus gewütet und das Betriebssystem musste neu installiert werden. Doch statt einmal mehr zur Windows XP CD zu greifen, erinnerte er sich an die vielen Berichte, die er im Fernsehen und Fachmagazinen gesehen hatte. Euphorische Berichte, wie leicht man auf das fehleranfällige, virengefährdete Windows verzichten könne. Wie mühelos der Umstieg wäre, auf ein Betriebssystem, das sicherer, stabiler und innovativer sei. Auf Linux.

Seit der finnische Programmierer Linus Torvalds vor 10 Jahren ein eigenes, an Unix orientiertes Betriebssystem entwickelte und den Programmcode der Software im Internet veröffentlichte, hat sich das Open-Source-Produkt Linux zu einer ernstzunehmenden Windows-Alternative entwickelt.

Bisher allerdings hauptsächlich im professionellen Bereich, etwa bei den Betreibern von Webservern. Dort wird Linux schon seit Jahren wegen seiner Verlässlichkeit und vor allem seiner Lizenzkostenfreiheit geschätzt. Für den privaten Gebrauch galt Linux noch bis vor kurzem als völlig ungeeignet: Zu kompliziert und benutzerunfreundlich für den Laien.

Doch Linux steht kurz vor einer Revolution, nach der das Nischendasein der Software auf dem privaten Desktop-Markt beendet sein könnte. Auf den derzeit größten Märkten der Welt – den asiatischen – deutet sich ein beispielloser Linux-Run an. Durch das gigantische Wirtschaftswachstum herrscht ein enormer Bedarf an Computertechnologie. Würde man dort Microsoft-Produkte verwenden, hätte man gigantische Lizenzgebühren zu zahlen. In China ist das lizenzkostenfreie Linux deshalb schon jetzt zum Betriebssystem Nr. 1 avanciert. Das wird Auswirkungen auf dem globalen Hardwaremarkt haben: Große Firmen werden es sich in Zukunft gar nicht mehr leisten können, Produkte zu entwickeln, die nicht unter Linux funktionieren.

Karl jedenfalls lässt sich überzeugen. Von den positiven Linux-Berichten, all den rosigen Zukunftsprognosen nnd nicht zuletzt von den Angeboten kommerzieller Linux-Anbieter wie SuSE. Diese werben mit Komplett-Paketen ab ca. 60 Euro, die alles enthalten, damit jeder Linux so einfach benutzen kann wie Windows. Das würde nicht nur bedeuten, lästige Dinge wie Computerviren vom Hals zu haben. Selbst Laien ohne technisches Vorwissen könnten “hinter die Kulissen” ihres Betriebssytems schauen und technische Vorgänge verstehen lernen, statt sich undurchsichtigen Standards zu unterwerfen.

Leider macht Karl ziemlich schnell ganz andere Erfahrungen. Vergleichsweise banale Probleme wie zum Beispiel ein nicht funktionierendes Modem, für Windows-User eine Kleinigkeit (neuen Treiber herunterladen und installieren), verwandeln sich unter Linux-Bedingungen in schier unüberwindbare Hindernisse. Plötzlich gilt es, Fehlerprotokolle auszuwerten, im Internet nach Programm- Modulen zu forschen und kryptische Programmzeilen zu testen.

Doch anstatt reumütig zu Windows zurückzukehren, registriert sich Karl im Internetforum www.linuxforen.de Unter dem Pseudonym Raptor beginnt er, mit anderen Usern zu chatten und Linux-Fachwissen auszutauschen. Karl ist der Überzeugung, dass der Einsatz sich irgendwann lohnen wird. Wie die meisten gestressten Linuxer glaubt auch er, durch die Schinderei zu einem „besseren User“ zu werden. Kreativ und wissend. Und vor allem: Unabhängig von Microsoft.

Monatelang klickt sich Karl als Raptor durchs Forum. Streikende Drucker, Scanner oder USB-Sticks werden zu seinen persönlichen Feinden. Er zwingt sie alle nieder. Nach einem halben Jahr hat er die Peripherie im Griff. Karl ist stolz, regelrecht glücklich. Er beginnt sich wie ein Experte zu fühlen, gibt anderen Forumsmitgliedern Tipps, liest Bücher zum Thema. Bis er sich eines Tages zu einem Systemupdate hinreißen lässt…

Nach dem Update funktioniert das Modem nicht mehr. Wie ganz am Anfang. Und obwohl mehrere Monate Linuxbüffelei hinter ihm liegen, braucht Karl fast doppelt so lang, um es wieder flott zu machen. Dabei entpuppt sich sein angebliches Computerwissen als hilfloses Abarbeiten kryptischer Befehlszeilen.

Plötzlich sieht Karl kein Land mehr. Für jedes gelöste Problem tauchen zwei neue auf. Nach über acht Monaten Quälerei dann die Kapitulation: Er meldet sich bei linuxforen.de ab. Sämtliche Linux-Fachzeitschriften wandern in den Müll. Und um überhaupt wieder ruhig arbeiten zu können, installiert er sich Windows XP als zweites Betriebssystem.

Ist Karl nur einfach zu dumm für Linux? Oder hat er gar nicht vor der Intelligenz des Computers versagt, sondern einfach nur die Konsequenz aus dessen Fehlerhaftigkeit gezogen?

Wie up to date ist Linux wirklich?

Selbst Informatik-Profis haben sich längst von der Vorstellung verabschiedet, man könne fehlerfreie Computersysteme programmieren und akzeptieren Systemabstürze als unausweichliche Tatsache. Computersysteme von morgen produzieren kontrollierte Systemabstürze, weil man auf diese Weise flexibler auf einen wirklichen Notfall reagieren kann. Es geht nicht mehr um Fehlervermeidung, sondern um intelligente Schadensbegrenzung.

Da wirkt Linux mit seinem Kontrollanspruch reichlich rückschrittlich. Und das ist auch kein Wunder. Denn so zukunftsweisend die Software auch gerade vermarktet wird: Im Grunde ist sie steinalt.

Der Programmcode basiert auf Unix, und das wurde bereits in den 60er Jahren entwickelt. Eine Zeit, die beherrscht war vom Denken der Kybernetik, jener „Steuerungswissenschaft“, die geradezu besessen davon war, organisches Leben durch mathematische Logik zu optimieren.

Für die Kybernetiker erschien der Computer als hochkomplexe aber dennoch bis ins letzte Detail kontrollierbare Maschine. Linux hat das kybernetische Kontrolldenken in seiner Programmstruktur konserviert. Wer damit arbeiten will, hat nicht nur die Möglichkeit, sondern letztlich auch die Aufgabe, alles an seinem System zu kontrollieren. Er ist nicht nur Anwender, sondern gleichzeitig auch immer der Administrator seines eigenen Systems.

Gut, Linux ist vielleicht alt, sagen die Befürworter. Aber immer noch tausendmal besser, als alles, was gerade auf dem Markt ist.

Das allerdings ist fraglich. Die viel gerühmte Sicherheit und Stabilität von Linux, scheinbar unabhängig vom Vorwissen und Engagement des Anwenders, hängen in Wahrheit gerade davon ab. Wer beim „Blick hinter die Kulissen“ mit kryptischen Zeichen operiert, die er nicht versteht, gefährdet sein System viel nachhaltiger, als es der dümmste Windows-User je könnte.

Wer Ja sagt zur Open Source …

Abgesehen davon enthält der Linux-Sourcecode Unmengen von Fehlern. Immerhin wurde er von Hunderten Programmieren über Jahre hinweg zusammengeschrieben. Und wo viele Menschen arbeiten, werden unweigerlich viele Fehler gemacht. Auch und gerade wenn der Code offen liegt und ständig Schwachstellen entdeckt und ausgebessert werden. Vor Computerviren sind Linux-User übrigens nur deshalb sicher, weil es sich für böswillige Hacker noch nicht lohnt, Linux-Viren zu schreiben. Und nicht, weil Viren in einer Linux- Umgebung nicht funktionieren würden. Keine Frage: Was die Produktionsbedingungen angeht, ist Linux auf der Höhe der Zeit. Alle Welt spricht von Open-Source-Communities als den Thinktanks von Morgen. Großartige Softwareprodukte wie Wikipedia oder Firefox sind in Open- Source-Netzwerken entstanden. Darüber hinaus hat der Linux-Boom mit dazu beigetragen, wichtige Reformen im Linzenzrecht einzuleiten.

… muss Linux noch nicht lieben

Doch nur weil Linux in einer Open-Source-Community entstanden ist, werden diejenigen, die damit arbeiten, nicht automatisch freier und unabhängiger im Umgang mit Computertechnologie. Eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall: Wer den größten Teil seiner Arbeitszeit damit verbringt, Fehlerprotokolle auszuwerten, Programmbibliotheken zu pflegen, Befehlszeilen auszuprobieren und nach Software-Updates zu suchen, hat sich zum Sklaven seiner eigenen Kontrollsucht gemacht. Angefixt durch Linux-Versprechen, „hinter die Kulissen“ blicken zu können. Kreatives Arbeiten jedenfalls ist unter dem Zwang, ständig alles im Griff haben zu wollen, nur äußerst schwer möglich.

Vielleicht wird sich das mit fortschreitender technologischer Entwicklung von selbst erledigen. Denkt zum Beispiel der Informatiker David Gelernter: „In der Zukunft werden wir über jede Menge Technik verfügen – und das Beste daran wird sein, dass wir uns über Technik keine Gedanken mehr machen müssen. Dankbar und erleichtert werden wir uns wieder den Themen zuwenden können, die wirklich zählen.“ Für die Gegenwart sollte das nicht heißen, technologische Entwicklungen zu ignorieren. Man sollte sich nur nicht von ihnen kontrollieren lassen. Unabhängig davon, ob man mit Windows, MacOS oder Linux arbeitet.

Erschienen auf www.spiegel.de am 22. März 2005.