Schall, Licht und Sandale

11.11.2004

 

Der Medientheoretiker Stefan Heidenreich protokolliert die Datenströme der Gegenwart

Technische Medien werden immer wichtiger für unser Leben. Jugendliche verwandeln sich in hilflose Geschöpfe, wenn man ihnen ihr Handy wegnimmt. Männer weinen, wenn ein Computervirus ihnen die Festplatte ramponiert, und erfolgreiche Frauen liebkosen pastellfarbene iPODs wie Neugeborene. Trotzdem hat kaum jemand eine Ahnung, was in all den Handys, PCs und digitalen Playern eigentlich vor sich geht, wenn sie Stimmen, Daten oder Musikstücke übermitteln. Schließlich sind die Daten, die sie speichern und übertragen, mit unseren Sinnen nicht wahrnehmbar.

Es muss an dieser unheimlichen Unzugänglichkeit der technischen Medien liegen, dass jedes Jahr unzählige Sachbücher unter dem Label „Medientheorie“ versuchen, die uralte Frage nach dem Zusammenhang zwischen Technik und Kultur zu klären. Auch die neu erschienene Studie „FlipFlop“ des Berliner Wissenschaftlers Stefan Heidenreich gehört zu diesen Büchern. Sie unternimmt den bemerkenswerten Versuch, Technikgeschichte nicht nur pointiert und gerafft nachzuerzählen, sondern dabei ausschließlich auf einfache und schlichte Begriffe wie „Bindung“, „Entscheidung“, „Auswahl“, „Folge“ oder „Verdopplung“ zurückzugreifen.

Technologien, so Heidenreichs zentrale These, werden nicht erfunden, um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern sie entstehen aus einer Eigendynamik des technischen Fortschritts heraus und bieten sich als Speicher und Vermittler neuer kultureller Inhalte an. Wie und ob sie dann auch als solche genutzt werden, hängt von technischen, ökonomischen und kulturellen Faktoren ab, die auf komplexe Weise voneinander abhängen: Erst wenn sich ein technisches Bauelement auch wirtschaftlich lohnt, ist das Interesse groß genug, die Übertragung selbst zu standardisieren und damit mögliche Inhalte für ein Massenpublikum erschließbar zu machen.

Routiniert berichtet Heidenreich über die kuriosen Anfänge der Photographie und des Films als Jahrmarktsattraktionen, streift Erfinderpersönlichkeiten wie Edison oder Muybrigde und klärt wichtige physikalische Fakten, zum Beispiel die Unterschiede zwischen Schall und Licht, auf wenigen Seiten in beeindruckender Klarheit. Man erfährt auch von jener japanischen Sandale namens „Zori“, die in den fünfziger Jahren an kalifornischen Stränden auftauchte und seitdem den Namen einer elektronischen Schaltung trägt: FlipFlop.

Digital im 18. Jahrhundert

Trotz der hochinteressanten historischen Episoden wartet man aber insgeheim auf eine Zuspitzung, einen Bruch im Text, der den Eintritt ins digitale Zeitalter, unsere WLAN und iPOD-Gegenwart, markiert. Die Unterscheidung zwischen „analog“ und „digital“ dräut über der Lektüre, und man ist gespannt auf Heidenreichs Analyse. Es ist dem Autor hoch anzurechnen, dass er hier ausgetretene Pfade verlässt: Die Differenz zwischen analoger und digitaler Codierung allein tauge gar nicht dazu, die Besonderheit moderner Technologien zu beschreiben, erfährt der erstaunte Leser. Denn digital codierte Daten gab es lange vor der elektronischen Digitalisierung. Mosaike beispielsweise wurden schon im 18. Jahrhundert als Bildmuster in Zahlentabellen verziffert, also digitalisiert.

Es ist nicht die Weise der Codierung selbst, erklärt Heidenreich, die das Geheimnis der modernen digitalen Medien birgt, sondern die Geschwindigkeit, mit der Signale codiert werden. Keine Zahlenmystik, kein bedeutsames Raunen über das Wesen von Nullen und Einsen, sondern schlicht und banal die rapide ansteigende Geschwindigkeit, mit der elektronische Systeme zwischen „ein“ und „aus“ hin- und her schalten können, erklärt die geheimnisvolle Eigenschaft des elektronischen Medien, menschliche Sinne immer perfekter zu simulieren und sich damit unverzichtbar in unseren Alltag zu integrieren.

Doch Heidenreich will wesentlich mehr, als nur originelle Technikgeschichte schreiben. Letztlich geht es auch ihm darum, ein Erklärungsmodell für die Wechselwirkung von Kultur und Technik zu bieten. Sein Duktus ist der eines Systemtheoretikers mit spürbarem Erklärungsanspruch, den er oft und gerne durch Sätze transportiert, die die Aura physikalischer Wahrheiten verströmen: „Eine gemeinsame Bewegung vieler einzelner Elemente bezeichnet man als Strom.“

Und wirklich: Die Stringenz, mit der er historische Trends der Malerei oder aktuelle Entwicklungen in der Club-Musik in klaren, oft aus der Informationswissenschaft und Linguistik stammenden Begriffen beschreiben kann, beeindruckt. Auch seine Prognose für zukünftige Trends, wie zum Beispiel im Bereich der digitalen Bilder, wirkt erstaunlich einleuchtend und angenehm ernüchternd: Vom rapiden Anwachsen der so genannten digitalen Bilderflut allein werde noch keinerlei kulturelle Dynamik entfacht. Erst wenn sich ein ökonomischer Nutzen aus den neuen Bildern ergibt, könne man von einer neuen Kultur der digitalen Bilder sprechen.

Trotz allem bleibt ein Verdacht. Mit welcher Berechtigung überträgt der Autor Begriffe aus der Informationstechnik auf kulturelle Phänomene? Wie wird die Setzung des technischen Fortschrittes als eigendymamisches, vom Menschen im Grunde nicht beeinflussbares System begründet? Könnte es sein, dass die Offenheit und und Virtuosität, mit der Heidenreich technische Begriffe auf kulturellem Boden jongliert, letztlich mit einer willkürlichen medientheoretischen Setzung erkauft wurde? Diese ist ausgerechnet in einem Absatz verborgen, in dem der Autor davor warnt, Kultur als bloße Illustration des Technischen abzutun. Kurioserweise warnt er damit vor sich selbst, denn nur wenige Zeilen später definiert er das „Technische als eine Grundlage, auf deren Basis Kultur entsteht und zirkuliert“. Doch auch wenn man hier anderer Meinung sein sollte: FlipFlop bleibt ein äußerst lesenswertes Protokoll avancierter Medientheorie.

Erschienen in Frankfurter Rundschau am 11. November 2004.