Immer mehr Menschen wollen urbanen Raum für eigene Projekte nutzen. Gleichzeitig stehen viele Immobilien leer. Zwischennutzungsagenturen versuchen, zwischen Eigentümern und Interessenten zu vermitteln. Das ist nicht immer leicht.
Einen winzigen Augenblick lang sieht die Berlin-Karte aus wie eine ganz normale Karte im Google Maps-Design. Dann tauchen plötzlich Hunderte von dicken roten Punkten auf, die sich wie ein Teppich über die gesamte Innenstadt legen. Auf jedem dieser Punkte prangt in Großbuchstaben das Wort „LEER“.
„Die Karte für Berlin ist noch nicht einmal gut bestückt. In Hamburg oder Frankfurt sieht das noch weit drastischer aus“, sagt Michael Ziehl. Der Architekt und Stadtplaner ist Mitbegründer von Leerstandsmelder.de, einem Online-Datenpool für leerstehende Immobilien. Es ist tatsächlich so: Hinter jedem roten Spot verbirgt sich ein Leerstand, gemeldet von einem der Nutzer des Portals. „Wir haben eigentlich nicht zu wenig Raum in unseren Städten. Die Flächen sind da, uns fehlt nur der Zugriff darauf“, sagt Ziehl.
Die rotgepunkteten Stadtkarten des Leerstandsmelders sind ein guter Einstieg in eine mittlerweile ziemlich komplex gewordene Diskussion. Immer mehr Stadtbewohner entwickeln ein besonderes Bedürfnis nach Raum. Kulturschaffende sind auf der Suche nach Ateliers, Start-ups nach Büros und soziale Initiativen nach Räumlichkeiten, um ihre Projektideen zu verwirklichen. Eine neue Lust, den eigenen städtischen Raum zu gestalten, greift um sich. Warum also eine Brache mitten in der Stadt verwildern lassen, wenn man einen Gemeinschaftsgarten anlegen könnte? Warum ein marodes aber wunderschönes Gründerzeithaus abreißen, wenn sich Menschen finden, die dort ein Kulturzentrum aufbauen möchten?
Zwischennutzung als Win-win-Situation?
Es gibt eine Lösung für dieses Problem. Sie heißt temporäre Nutzung. Leerstehende Gebäude werden für einen begrenzten Zeitraum günstig vermietet. Der Eigentümer kann wieder Einnahmen generieren, die Mieter haben Zugang zu günstigen Räumen. Und auch die Stadt ist zufrieden, denn weniger Leerstand bedeutet Schutz vor Verwahrlosung der Gebäude. Das klingt sehr naheliegend und sehr elegant – gewissermaßen eine Situation, von der alle Beteiligten profitieren könnten. Also wo genau ist der Haken? Warum sieht man immer noch so viele rote Punkte auf den Karten des Leerstandsmelders?
„Die Win-win-Situation gibt es, sie ist nur schwerer herzustellen, als es auf den ersten Blick scheint“, erklärt Michael Ziehl, der neben seinem Engagement für den Leerstandsmelder eine Agentur für Stadtplanung betreibt, die zwischen Nutzern, Eigentümern, Behörden und Geldgebern vermittelt. „Man sollte denken, jeder Eigentümer hätte Interesse daran, einen Leerstand möglichst schnell zu beseitigen. Doch das ist nicht immer der Fall.“ Wer aus einem Leerstand Steuervorteile zieht, für den ist eine temporäre Vermietung aus ökonomischer Sicht sinnlos. Auch lässt sich mit einem leerstehenden Gebäude viel besser spekulieren. Abgesehen davon spielt die Angst vor einem Wertverlust durch Zwischennutzung eine große Rolle.
Opfer des eigenen Erfolges?
Selbst wenn sich Eigentümer auf den Deal einlassen und ihre Leerstände für eine Zwischennutzung öffnen, wird dies inzwischen kontrovers diskutiert. Ist das, was zunächst wie eine Win-win-Situation aussieht, nicht in Wahrheit ein Handel, von dem am Ende doch nur einer profitiert: der Investor, dessen Objekt die Zwischennutzer neu beleben, für den Markt also wieder interessant machen? Temporäre Nutzung, so die Position der Kritiker, spielt am Ende gerade den Verdrängungsprozessen einer neoliberalen Stadtpolitik zu, gegen die man eigentlich agieren wollte: Ein Viertel wird beliebter, die Mieten steigen und schließlich müssen gerade diejenigen gehen, die diese Entwicklung angestoßen haben. Die Zwischennutzer, heißt es dann, werden Opfer ihres eigenen Erfolges.
Kann man diesen Widerspruch auflösen? Man kann, findet Daniel Schnier von der ZwischenZeitZentrale (ZZZ) in Bremen, einer Vermittlungsagentur für die temporäre Nutzung leerstehender Gebäude: „Es gibt mehr Handlungsspielräume, als man denkt.” Natürlich kann auch Schnier von den Fällen berichten, in denen Zwischennutzer am Ende geschockt darüber waren, ein erfolgreiches Projekt wieder aufgeben zu müssen. „Das ist nun einmal das Wesen einer temporären Nutzung. Nach Ablauf der Zeit müssen die Kreativen weiterziehen.“ Andererseits entwickeln sich aus einer anfänglichen Temporalität oft auch längerfristige Modelle. „Wir betreuen immer mehr Mietergruppen, die mit dem Eigentümer ein Vorkaufsrecht für eine Immobilie aushandeln und so am Ende selbst zum Eigentümer werden.“
Zwischennutzung neu denken
Auch Michael Ziehl sieht durchaus Möglichkeiten, den Mechanismen des Marktes zu entgehen. „Letztlich ist es immer auch eine politische Entscheidung, welche Rahmenbedingungen man für Modelle der Zwischennutzung schafft.“ Wozu laut Ziehl auch gehört, Konzepte für eine auch längerfristige Nutzung städtischen Raumes zu entwickeln. „Wir sehen mittlerweile immer mehr Projekte, die zwar mit dem Label Zwischennutzung gestartet sind, sich dann aber weiterentwickelt haben und über eine temporäre Nutzung hinausgehen.“
Ziehl plädiert deshalb auch dafür, den Begriff Zwischennutzung möglichst zu vermeiden, wenn man über Konzepte zur kreativen Wiederaneignung städtischen Raumes spricht. Das Entscheidende sei ja im Grunde nicht die Temporalität der Projekte, sondern die Tatsache, dass es hier die Bürger selbst sind, die eine Entwicklung vorantreiben. „Investoren und Projektentwickler spielen keine Rolle.“ Statt Zwischennutzung möchte er deshalb lieber von „nutzergetragenen Entwicklungen“ sprechen, statt von temporären Räumen von „Second Hand Spaces“. „Eigentlich sollte es ja darum gehen, gute Projekte auch längerfristig an einem Ort zu etablieren.“
Dieser Meinung ist auch Daniel Schnier von der ZwischenZeitZentrale in Bremen. Wobei er auch gleich die Schwierigkeiten sieht. Viele Stadtverwaltungen hätten noch kein Bewusstsein dafür, wie sehr sie von solchen nutzergetragenen Entwicklungen profitieren. „Wir haben hier Pionierprojekte gemeinsam im ständigen Austausch mit allen Beteiligten in Bremen vorangebracht. An diesen Orten wird exzellente Kulturarbeit geleistet.“ Kulturarbeit, die, wie er betont, in vielen städtischen Einrichtungen überhaupt nicht mehr funktioniert. „Man sollte einfach mal darüber nachdenken, wie sinnvoll es ist, von diesen Akteuren in der Zwischennutzung auch noch Mieten zu verlangen.“
Erschienen im Juni 2015 auf www.goethe.de
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Oktober 2015