Für Kinder ist es unverzichtbar, für Erwachsene eine wichtige Quelle der Inspiration. Ein Gespräch mit dem Psychologen und Spielforscher Prof. Dr. Rolf Oerter über die Bedeutung des Spiels für den Menschen.
Herr Oerter, wir assoziieren das Spiel vor allem als kindliche Praxis. Welche Rolle spielt es für Erwachsene?
Generell kann man sagen: Spielen hat einen sehr hohen Stellenwert für Menschen, egal welchen Alters. Für kleine Kinder ist es die wichtigste Form der Lebensbewältigung überhaupt. Und auch Erwachsene greifen häufig auf Spiele zurück, um ihren beruflichen und privaten Alltag besser meistern zu können. Zum Beispiel dann, wenn sie ein Defizit spüren. Lebensbereiche, die beruflich nicht zu realisieren sind, werden spielerisch erschlossen, zum Beispiel in Form eines Hobbys. Oder denken Sie an die Vielzahl von sportlichen Wettkämpfen, die man durchaus als ritualisierte Kriege bezeichnen kann, und die auf eine sehr effektive Art Spannung ausgleichen können. Die Karten werden neu gemischt und plötzlich ist es möglich, dass ein sehr kleines gegen ein sehr großes Land gewinnen kann.
In Ihrer Forschung sprechen Sie an dieser Stelle noch viel grundsätzlicher von einer Verschränkung von Ontogenese und Kulturgenese des Spiels. Aus einer kindlichen Praxis entwickelt sich schließlich ein wichtiger Teil dessen, was wir Kultur nennen. Können Sie uns das erklären.
Transformation der Wirklichkeit
Trotz dieser großen Formenvielfalt: Gibt es so etwas wie allgemeine Merkmale des Spiels?
Ich denke schon. Ganz zentral ist beispielsweise die Zweckfreiheit. Man spielt in der Regel der Tätigkeit wegen. Denken Sie an die Knobelei beim Sudoku oder das Lösen eines Kreuzworträtsels. Sobald Sie die Aufgabe gelöst haben, wird das Spieleblatt entsorgt. Ein zweites wichtiges Kriterium ist etwas, das ich Realitätstransformation nennen möchte. Sobald wir mit einem Spiel beginnen, begeben wir uns in eine andere Realität, nämlich die des Spiels. Sehr häufig ist das Spielen dabei auf bestimmte Objekte bezogen, also zum Beispiel Spielkarten, Bälle, Alltagsgegenstände, die dann im Sinne der Spiellogik umgedeutet werden. Und, vielleicht als letzten Punkt: Spielhandlungen haben eine Tendenz zur Wiederholung. Sobald eine Tätigkeit gelingt, wird sie lustvoll wiederholt.
Warum spielen wir eigentlich, welchen Nutzen bringt es uns?
Sie unterscheiden zwischen realen und spielerischen Situationen. Ist diese Trennung denn in jedem Fall sinnvoll?
Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen realen und spielerischen Handlungen. Was aber nicht heißt, dass es immer sinnvoll ist, auch scharf zwischen Kategorien wie Arbeit und Spiel zu trennen. Im Gegenteil. Wir wissen, dass gerade dann, wenn Arbeit als interessant und erfüllend empfunden wird, spielerische Elemente eine Rolle spielen. Produktive Arbeit enthält stets Spielelemente, die kreative Leistungen ermöglichen und gleichzeitig Reaktanz und Ermüdung herabsetzen. Besonders ausgeprägt ist das zum Beispiel unter Wissenschaftlern. Viele Spitzenforscher weisen immer wieder darauf hin, wie wichtig spielerische Elemente sind, um wirklich bahnbrechende Ergebnisse zu erzielen.
Stimulationen und doppeltes Realitätsgefühl
So nützlich Spiele für uns sind, sie bergen auch ein Risiko.
Ist es nicht auch so, dass uns das Computerspiel in eine regelrechte Reiz-Reaktions-Maschinerie einspannt? Uns also als Spieler gewissermaßen „unfrei“ macht.
Das stimmt. Viel entscheidender finde ich aber die Tatsache, dass die Spielwelten, in welche der Computerspieler eintaucht, im Falle von digitalen Szenarien genauestens vorgegeben sind – im Unterschied zu all jenen Spielen, in denen sich die Akteure diese Welt selbst konstruieren. Wer sich exzessiv in solchen digitalen Welten aufhält, entwickelt tatsächlich so etwas wie ein zweites und somit doppeltes Realitätsgefühl. Er lebt in zwei Welten. Und das halte ich für problematisch.
Copyright: Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion
November 2013
Erschienen auf www.goethe.de im November 2013.
Bild: Spielen © Steffi Reichert (via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)