Stille Anarchie

19.11.2014

Sie erkunden verlassene Industrieruinen und steigen auf die Gerüste städtischer Baustellen. Auch in Deutschland wollen so genannte Urban Explorer den urbanen Raum neu für sich entdecken. Für manche ist es bloß ein Abenteuer, andere sehen sich als politische Aktivisten.

Anfang 2008 recherchierte der deutsche Redakteur und Fotograf André Winternitz in seiner westfälischen Heimat für einen Artikel nach unheimlichen Orten. Bei Heimatvereinen fragte er nach „Geisterhäusern mit Gruselfaktor“ und wurde fündig. „Als ich die ersten Objekte besucht habe, war ich sofort fasziniert. Ich wollte immer mehr fotografieren und vor allem immer mehr über die Geschichte der Häuser erfahren.“ Er wurde, wie er selbst sagt, vom „Ruinenvirus“ infiziert, von einer Leidenschaft für die „Ästhetik des Verfalls.“

Bald entschloss sich Winternitz, sein privates Bildarchiv öffentlich zu machen. Auf der Webseite Rottenplaces.de sammelte er seine schönsten Ruinenfotografien und fand schnell den Kontakt zu Gleichgesinnten. Das Archiv wuchs, es wurden Informationen über die besuchten Objekte gesammelt, in einem Forum konnte sich die wachsende Szene austauschen. Auch das Ziel des Vorhabens wurde klarer definiert: Fotografieren und Dokumentieren, um gegen das Vergessen anzukämpfen, wie es auf der Webseite heißt.

Suche nach urbanen Abenteuern

Mittlerweile ist Rottenplaces.de ein wichtiger deutschsprachiger Anlaufpunkt für den internationalen Trend der Ruinenfotografie geworden, für den sich in der Szene die Bezeichnung Urban Exploration durchgesetzt hat. Den so genannten Urban Explorern, auch Urbexer genannt, geht es um das Erforschen städtischer Räume, die für die meisten Stadtbewohner in der Regel nicht zugänglich sind. Das können neben Ruinen auch Leerstände, Großbaustellen, städtische Abwassersysteme oder nicht mehr genutzte U-Bahnhöfe sein. Für viele spielt das kreative Einbrechen in gesicherte Objekte eine ebenso große Rolle wie das Dokumentieren der Erkundung selbst.

Das 2013 erschienene Buch Explore Everything: Place-Hacking the City ist eine Art Insiderbericht über eine Londoner Gruppe von Ruinenfotografen. Darin versucht der Geograf und ehemalige „Urbexer“ Bradley Garrett das Phänomen Urban Exploration historisch und politisch einzuordnen. Das systematische Erkunden städtischer Räume lässt sich bis in die 1960er-Jahre zurückverfolgen. Damals forderte die Künstler- und Intellektuellengruppe Situationistische Internationale eine neue Wahrnehmung städtischer Wirklichkeit, die „hinter den Fassaden einer gezähmten urbanen Umgebung echte Abenteuer“ erkennen solle.

Die Schönheit urbaner Räume

Im Jahr 2012 erlangte Garrett Berühmtheit, als Fotos von der Spitze des 310 Meter hohen The Shard in London, damals das höchste Gebäude Europas, im Internet auftauchten. Die Medien sprachen von der „Besteigung des Mount Everest der Architektur“, Garrett selbst von einer „Bewusstmachung urbaner Lebenswelt“. In einem Interview mit den Stuttgarter Nachrichten erklärt er seine Motivation: „The Shard etwa gibt sich als ‚gemischt genutzte Immobilie‘ aus, dabei haben nur Auserwählte Zutritt. Hier geht’s ums Geld, nicht um Teilhabe.“

Für André Winternitz dagegen spielen der Kitzel des Verbotenen und politische Agitation, wenn überhaupt, nur eine geringe Rolle: „Wenn möglich, holen wir uns eine Genehmigung, bevor wir einen Ort besichtigen.“ Er möchte seine Aktivitäten eigentlich auch gar nicht Urban Exploration, sondern lieber Ruinenerkundung nennen. Das unerlaubte Einsteigen in Objekte ist nur im Ausnahmefall Mittel zum Zweck. Die wirkliche Kreativität, so Winternitz, entfalte sich beim Fotografieren sogenannter Lost Places, wie Ruinen in der Szene auch genannt werden.

Ähnlich sieht das auch Olaf Rauch, Fotograf, Urban Explorer und Veranstalter der Urbexpo in Bochum, einer der größten Fotoausstellungen in Europa zum Thema Ruinenfotografie und Ästhetik des Verfalls: „Uns geht es darum, jenseits aller Abenteuerromantik mithilfe von Bildern ein Bewusstsein für die Schönheit urbaner Räume zu schaffen – seien es die gigantischen Ruinen verlassener Stahlwerke oder die noch eingerichteten Räume eines seit Jahrzehnten leerstehenden Hotels.“

Stille Anarchie

Allerdings räumen Winternitz und Rauch ein, dass nicht die ganze deutsche Urban Explorer-Szene hinter ihren Projekten Rottenplaces.de und Urbexpo stehe. Das öffentliche Benennen von Objekten und Orten zum Informationsaustausch gelte bei einigen Szenemitgliedern als Überschreitung eines Tabus, das letztlich zur Kommerzialisierung einer schützenswerten Subkultur führe.

Ob es dabei tatsächlich um Gesellschaftskritik oder vielmehr um die Verteidigung eines spektakulären Hobbys geht, darüber mag man sich streiten. Die Wiederaneignung von städtischem Raum jedenfalls, für die Urban Explorer bisweilen mit drastischen Mitteln eintreten, ist ein Prozess, der längst schon im Gange ist. Ein „neuer Urbanismus“ und eine „stille Anarchie“, so schreibt der Journalist und Autor Hanno Rauterberg in seinem Buch Wir sind die Stadt! (2013), sei in den Metropolen zu beobachten. Beispiele hierfür seien Flashmobs mit ihren skurrilen Kurzaktionen, das auch als Guerilla Gardening bekannte Anlegen von Blumenbeeten an Straßenrändern, das Verwandeln von Stromkästen in Kunstwerke oder das Durchwühlen von Supermarktabfällen beim Containern.

Urban Exploration war und ist ein Teil dieses aktiv gelebten Stadtgefühls, doch es bleibt dabei auf eine sehr stille Weise anarchisch.

Erschienen auf www.goethe.de im November 2014.

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November 2014