Doktor Smartphone – Themenheft „Zukunft Medizin“ (Die ZEIT)

25.10.2018

Werden schon bald viele diagnostische Untersuchungen von den Patienten selbst durchgeführt – mit GesundheitsApps auf ihren Uhren und Telefonen? Ein Gespräch mit Prof. Dr. Erwin Böttinger, Leiter des Digital Health Centers am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam.

Herr Böttinger, nutzen Sie Gesundheits-Apps auf Ihrem Smartphone?

Ja, ich nutze regelmäßig Aktivitäts-Tracker und verschiedene Apps im Bereich Stressreduktion.

Aber Sie messen noch nicht Ihren Puls oder Blutdruck?

Nein, wobei es auch hierfür schon Apps gibt und in Zukunft noch sehr viel mehr Anwendungen geben wird, mit denen Smartphones alle möglichen gesundheitsrelevanten Daten sammeln und analysieren können.

Sie meinen, es wird in Zukunft möglich sein, sich selbst zu untersuchen?

Richtig. Das Zusammenführen von digitalen Sensortechnologien und mobilen Technologien wird die medizinische Diagnostik stark verändern. Im Augenblick ist es noch Standard, in eine Arztpraxis zu gehen, um sich untersuchen zu lassen. Sie werden an ein EKG angeschlossen oder zur radiologischen Untersuchung in eine Röhre geschoben. Meine Prognose ist, dass in naher Zukunft weit über die Hälfte aller diagnostischen Untersuchungen von uns selbst durchgeführt wird. Mit dem Smartphone.

Heißt das, die Eigenuntersuchung durch mein Handy kann die Untersuchung durch das Profi-Equipment eines Facharztes ersetzen?

Ersetzen vielleicht nicht, aber mindestens ergänzen. Und natürlich müssen solche Devices strengen Zulassungskriterien unterliegen. Wenn wir von einer Smart-Watch ausgehen, die ein EKG ableiten kann, was heute schon möglich ist, dann ist die Anforderung an die Genauigkeit und Zuverlässigkeit des Gerätes eine Fragestellung, die validiert werden muss. Da stehen dann die Hersteller in der Pflicht. Dabei geht es nicht darum, in allen Bereichen alles zu können. Ziel sollte es sein, in bestimmten, wesentlichen Bereichen so gut zu sein wie eine Standard-Untersuchung in einem ambulanten Umfeld.

Von welchen wesentlichen Bereichen sprechen Sie?

Zum Beispiel Herzrhythmusstörungen. Mithilfe einer EKG-fähigen Smart-Watch ist es möglich, bei Risikopatienten zuverlässig Risiken zu erkennen. Und das ist natürlich ein Durchbruch. Das heißt aber nicht, dass man mit einem solchen EKG beispielsweise auch frühe Zeichen eines Herzinfarktes erkennen könnte, was mit einem klassischen EKG-Gerät in einer kardiologischen Praxis möglich wäre. Man sollte in jedem Fall immer differenzieren: Welche Fragestellung wollen wir mit den neuen Technologien voranbringen?

Sie sind Leiter des Digital Health Centers des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam. Welcher Fragestellung gehen Sie dort nach?

Unsere Aufgabenstellung ist es, zu untersuchen, wie wir die hoch entwickelten Geräte, die wir inzwischen fast alle mit uns herumtragen, im schon beschriebenen Sinne einsetzen können: Nämlich um kontinuierlich und direkt aus dem täglichen Leben Gesundheitsdaten erfassen und analysieren zu können, um dann, wenn Anomalien auftreten, die Möglichkeit zu haben, sofort zu reagieren. Das verstehen wir unter Digital Health.

Die Digitalisierung von Patientendaten fällt nicht darunter?

Eigentlich nicht. Natürlich ist die Digitalisierung von Daten im Versorgungssystem extrem wichtig, aber das ist im Grunde nichts Neues mehr, obwohl man in der aktuellen deutschen Debatte um die elektronische Patientenakte genau diesen Eindruck gewinnen könnte. Aber das liegt einfach nur daran, dass wir uns in Deutschland in diesem Bereich extrem schwertun. Andere Länder sind uns da um Jahrzehnte voraus.

Können Sie uns einen Einblick geben, an welchen digitalen Zukunftsprojekten Sie und Ihre KollegInnen am Digital Health Center gerade forschen?

Eines unserer spannendsten Projekte ist der Versuch, über das Mikrofon des Smartphones die Tonlage der Stimme und die Sprechgeschwindigkeit des Nutzers zu analysieren. Aus diesen Daten lassen sich Muster extrahieren, die auf das Stresslevel hindeuten, unter dem der Nutzer steht. Falls dieser zu hoch ausfällt und das Risiko für eine seelische Krise besteht, könnte eine App Alarm schlagen. In einem anderen Projekt, das wir Forecasting Mental Earthquakes nennen, wollen wir bei Patienten, die prädisponiert sind für psychische Erkrankungen, Risikofaktoren für einen Ausbruch der Krankheit identifizieren, um im entscheidenden Moment gegensteuern zu können.

Wie werden Digital-Health-Lösungen den Alltag von Ärzten verändern?

Ärzte werden es immer mehr mit Patienten zu tun bekommen, die schon im Vorfeld Daten gesammelt und ausgewertet haben. Es gibt heute schon KI-unterstützte Apps, die mittels eines interaktiven Fragebogens Symptome abfragen und mögliche Diagnosen vorschlagen. Das kann wiederum den Arzt bei seiner Diagnose massiv unterstützen und ihm helfen, sich auf das zu konzentrieren, um was es beim Arztbesuch im Kern immer gehen sollte: eine möglichst intensive und direkte Mensch-zu-Mensch-Interaktion.

Wie beurteilen Sie die aktuellen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen für Digital Health in Deutschland?

Zum einen ist es positiv zu bewerten, dass wir bei den grundlegenden Voraussetzungen für Digital-Health-Anwendungen, nämlich der Digitalisierung konventioneller Daten, nun nach Jahrzehnten des Quasi-Stillstands ein wenig vorankommen. Gleichzeitig sollte man sich nichts vormachen: Das bedeutet lediglich, dass wir überhaupt wieder den Anschluss an die internationale Spitze finden. Das Wichtige zum jetzigen Zeitpunkt ist, dass es keine Festlegungen auf Technologien gibt, die uns die Möglichkeiten für Digital Health in der Zukunft verbauen oder erschweren. Genau da habe ich allerdings große Sorge.

Warum?

Ich sehe die Gefahr, dass wir in einer besonderen Betrachtung des deutschen Gesundheitswesens, in einer besonderen Betrachtung von Gesundheitsdaten neue und spezielle Lösungen entwickeln, die uns noch mehr von der generellen Entwicklung weltweit abkoppeln. Das Problem, das wir im deutschen Gesundheitssystem unbedingt lösen müssen, ist das Blockieren von Informationsflüssen zwischen den einzelnen Akteuren. Wir können es uns einfach nicht erlauben, den Anschluss an die digitale Zukunft der Medizin zu verlieren.

Prof. Dr. Erwin Böttinger
ist Leiter des Digital Health Centers am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam.

Erschienen in: Zukunft Medizin (Inpactmedia) als Beilage der ZEIT am 25.10.2018

Hier der Link zum E-Paper (Pressmatrix)