Industrie 4.0, die Digitalisierung der Industrieproduktion, ist bereit für den Sprung auf den nächsten Level. Längst geht es nicht mehr nur um intelligente Roboter in futuristischen Fertigungshallen, sondern um die Vernetzung ganzer Branchen zu „digitalen Ökosystemen“. Ein Gespräch mit Henning Banthien, Generalsekretär der Plattform Industrie 4.0.
Herr Banthien, der Begriff Industrie 4.0 ist auf der Hannover Messe 2011 geprägt worden, ursprünglich mit dem Fokus auf die industrielle Produktion. Inzwischen umfasst der Begriff aber sehr viel mehr, oder?
Der Charme des Begriffs liegt einerseits in seiner klaren Fokussierung auf die Digitalisierung der industriellen Produktion. Andererseits birgt er aber eine hohe Komplexität: Es geht hier nicht nur um technologische Fragen, sondern auch um Fragen nach der Zukunft der Arbeit, der rechtlichen Rahmenbedingungen, neuer Geschäftsmodelle – um nur einige Facetten zu nennen.
Trotzdem denken viele noch immer vor allem an intelligente Roboter in futuristischen Fertigungshallen.
Es stimmt, dass es von Anfang an die Debatte gab, ob Deutschland eigentlich gut beraten ist, sich so stark auf den industriellen Bereich zu fokussieren. Im Sinne von: Die Deutschen und ihre Maschinen. Heute erkennen wir, dass das eine sehr clevere strategische Entscheidung war, die sich in vielerlei Hinsicht auszahlt.
Inwiefern?
Zum einen hat es uns geholfen, Kräfte auf eine bestimmte Fragestellung hin zu bündeln und dadurch in einem spezifischen Feld sehr weit zu kommen. Jeder weiß, wenn man einen klaren Fokus hat, ist man produktiver. Bei Industrie 4.0 war das die Entscheidung, große Innovationsfelder wie Smart Homes, Mobilität oder Gesundheit zunächst auszuklammern. Aber genau dadurch, und das ist der zweite Grund, ist der Begriff zu so einer erfolgreichen internationalen Marke geworden.
Viele Länder haben den Begriff übernommen …
… oder um eine eigene Bezeichnung ergänzt. In jedem Fall aber beziehen sie sich auf das, was wir mit Industrie 4.0 meinen. Und das ist natürlich im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie ein großer Erfolg. Alle schauen auf Deutschland und wissen, das ist der Hort der Kompetenz, wenn es um dieses Thema geht.
Selbst die Amerikaner?
Ja, selbst die Amerikaner mit ihrem scheinbar übermächtigen Silicon Valley. Auch wenn sie im Consumer-Bereich, denken wir an Apple, Amazon und Facebook, sicher immer noch führend sind, setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass die Wertschöpfungspotenziale im industriellen Bereich riesig sind. Und hier haben deutsche Industrieunternehmen mit ihrem technischen Know-how einen Startvorteil, den es zu nutzen gilt. Deswegen orientieren sich zunehmend Firmen auch aus dem Valley mit ihren Entwicklungsabteilungen nach Deutschland.
Wir halten also fest: die ursprüngliche Fokussierung auf die industrielle Produktion hat sich ausgezahlt, inzwischen aber geht es um weit mehr als schicke Industrieroboter. Bringen Sie uns doch bitte einmal auf den aktuellen Stand.
Sehr gerne. Wir haben prototypische Lösungen und Referenzpunkte geschaffen, die auch für Domänen abseits der Elektroindustrie und des Maschinenbaus interessant sind, wie die chemische Industrie oder den Mobilitäts- und Energiebereich. Diese Branchen haben nun die Möglichkeit, die Lösungsansätze auf ihre Prozesse zu übertragen. Das hat zwei große Vorteile: Erstens müssen sie die Lösungen nicht selbst entwickeln, sondern nur adaptieren. Und zweitens wird sichergestellt, dass auch branchenübergreifend zusammengearbeitet werden kann. Das ist ganz entscheidend.
Warum ist das so entscheidend?
Weil wir nur dann eine möglichst große Homogenität in diese neue Welt der Maschinensprachen hineinbringen. Denn darum geht es ja im Kern der technologischen Entwicklung: Maschinen sprechen mit Maschinen. Der Erfolg von Industrie 4.0 national wie international wird sich daran messen, inwiefern es gelungen ist, einheitliche Standardisierungen umzusetzen. Daher müssen wir in Deutschland und mit unseren internationalen Partnern zeigen, dass unsere Konzepte für eine einheitliche Standardisierung in der Praxis funktionieren. Dies werden übrigens viele Firmen auf der Hannover Messe dieses Jahr zeigen können.
„Maschinen sprechen mit Maschinen“ – ist diese Autonomie denn das qualitativ Neue an der vierten industriellen Revolution?
Sie ist ein wichtiger Teil davon, ja. Vernetzung oder Integration sind vielleicht die grundlegenderen Begriffe. Wir erinnern uns, die Kerntechnologie der ersten industriellen Revolution war die Mechanisierung, die der zweiten die Massenproduktion, in der dritten industriellen Revolution drehte sich alles um Automatisierung und heute haben wir es mit einer zunehmenden Vernetzung autonom agierender Systeme über das Internet zu tun. In den Unternehmen spielt sich diese Veränderung gerade in zwei wesentlichen Dimensionen ab.
Welche sind das?
Das ist zum einen die vertikale Integration. Gemeint ist die Zusammenführung sämtlicher betrieblicher Bereiche, von der Produktionsstrecke über den Einkauf bis hin zu Forschung und Entwicklung – alles vereint in einem Datensystem. Hinzu kommt, und das ist eine relativ neue Entwicklung, eine zunehmende horizontale Vernetzung. Die Unternehmen erhalten zunehmend Impulse, miteinander zu kooperieren. Sie werden sich nicht mehr in Wertschöpfungsketten, sondern in komplexen Wertschöpfungsnetzwerken beziehungsweise „digitalen Ökosystemen“ zusammenfinden und auf digitalen Plattformen zusammenarbeiten.
Von welchen Plattformen ist hier die Rede?
Wenn wir uns lösen von der rein technischen Fragestellung – und wie schon gesagt, es geht bei industriellen Revolutionen am Ende immer um wesentlich mehr als Technologie – dann ist die Plattform der zentrale Begriff, der die zukünftige Entwicklung beschreibt. Prozess- und Zustandsdaten aus Produktion und Produktnutzung werden auf einer IT-Plattform gesammelt und analysiert – in Unternehmen aber auch über Unternehmensgrenzen hinweg. Die Zusammenführung und Aufbereitung der Daten ermöglicht es, ganz neue Services anzubieten.
Haben Sie ein Beispiel für uns?
Nehmen Sie das mittelständische Unternehmen Kaeser Kompressoren. Bislang wurden dort Druckluftmaschinen verkauft. Heute überwachen Sensoren die Druckluftkompressoren beim Kundenunternehmen in Echtzeit und sammeln Daten zu Stromverbrauch, Druckluftqualität und vielen anderen Aspekten. Servicetechniker können mithilfe der Daten Wartungs- oder Reparaturbedarf voraussehen oder frühzeitig erkennen und schneller reagieren. Diese Neuerung ermöglicht Kaeser ein ganz neues Geschäftsmodell: Produkt ist nun nicht mehr das Gerät zur Herstellung von Druckluft, sondern die Druckluft selbst – inklusive des Services, der garantiert, dass der Kunde das Produkt, die Druckluft, jederzeit zur Verfügung hat.
Nun ist Druckluft nicht gerade ein typisches Konsumgut. Ist der beschriebene Perspektivwechsel denn auch für den Massenmarkt relevant?
Dazu habe ich ein weiteres Beispiel für Sie. Nehmen wir an, Sie sind ein Fan der Marke Adidas. Dann haben Sie inzwischen die Möglichkeit, sich Ihren Schuh vollkommen individuell zu designen, ihren Wunsch an eine deutsche Fabrik zu übermitteln und sich den Schuh nachhause liefern zu lassen. Das beinhaltet mehrere interessante Facetten: Erstens einen hohen Grad an Individualisierung, zweitens eine sehr schnelle und lokale Produktion. Und drittens: Der Kunde ist gewissermaßen Teil der Produktentwicklung geworden.
Wie ist denn der Mittelstand inzwischen aufgestellt? Er galt ja lange als eher skeptisch gegenüber der Digitalisierung.
Viele Mittelständler sind trotz einer grundsätzlichen Offenheit für digitale Transformationsprozesse, die wir sehr wohl spüren, in einer anspruchsvollen Lage. Viele sind ja gerade sehr erfolgreich und das ist nun klassischerweise nicht der Moment, in dem die Bereitschaft zur Innovation am größten ist. Ganz abgesehen davon ist das oft eine schlichte Kapazitätsfrage: Habe ich überhaupt Mitarbeiter, die ich freistellen kann, die sich Gedanken machen können über mitunter ziemlich weitreichende Implikationen für das Unternehmen?
Solche Wege kann man nur gehen, wenn auch kompetente Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Wie ist Deutschland in diesem Bereich aufgestellt?
Die entscheidende Frage wird es sein, wie wir einen weiterhin bestehenden Bedarf an Arbeitskräften an die sich teilweise stark verändernden Anforderungen anpassen. Es wird meiner Meinung nach weniger zu einem Abbau an Jobs kommen, sondern die Tätigkeiten im Job selbst werden sich massiv verändern: Der Job bleibt, aber er wandelt sich stark. Daher werden wir alle kontinuierlich weiter lernen müssen.
Was wäre Ihrer Meinung nach zu tun?
Zunächst müssen wir beginnen, das Thema ernst zu nehmen – noch viel ernster als bisher. Man muss sich die Dimension klar machen: Es geht hier ja nicht nur darum, allen Schülern Programmierkenntnisse beizubringen. Es geht auch um die Millionen Arbeitnehmer, die bereits seit Jahrzehnten einer Tätigkeit nachgehen, für die sie einmal sehr gut ausgebildet waren und sich nun plötzlich einem mehr oder weniger massiven Veränderungsdruck ausgesetzt fühlen. Es ist eine Frage des Aus- und Weiterbildungssystems und zwar für „blue collar“ und für „white collar“: Haben wir die richtige Qualität und Breite des Angebots, um die notwendige Bildungsoffensive zu meistern? Trotzdem bleibe ich für Deutschland zuversichtlich, dass wir diese Herausforderung gut bewältigen werden.
Was macht Sie so optimistisch?
Nicht zuletzt die offene, engagierte und gestaltende Haltung vieler Akteure, etwa der Gewerkschaften aber auch der Handelskammer und der Verbände. Auch unser Bildungssystem ist etwa mit dualer Ausbildung bestens vorbereitet, schnell auf neue Anforderungen zu reagieren. Wir sehen das auch schon in den jüngsten Anpassungen von Ausbildungsordnungen der Metall- und Elektroberufe, die genau auf die Bedarfe von Industrie 4.0 eingehen.
Henning Banthien
ist Generalsekretär der Plattform Industrie 4.0 und ein international gefragter Experte auf den Gebieten Industrie 4.0, Nachhaltigkeit sowie Governance.
Erschienen in: Technologien der Zukunft (Inpactmedia) als Beilage der Wirtschaftswoche am 03.04.2018.