„Unser Wissensmanagement hat sich verändert“ – Hans-Christoph Hobohm im Gespräch

1.07.2013

Noch nie wurde so viel und so intensiv kommuniziert wie heute. Definieren Smartphones und soziale Netzwerke eine neue Art des Sprechens? Erleben wir ein „Comeback der Oralität“? Ein Gespräch mit Hans-Christoph Hobohm, Professor für Bibliothekswissenschaft an der Fachhochschule Potsdam

Herr Hobohm, als Wissenschaftler, der sich mit der Archivierung von Wissen beschäftigt, beobachten Sie ein Comeback oraler Formen der Kommunikation. Was genau ist darunter zu verstehen?

Das Interessante an der Digitalisierung, also an der „Entkörperlichung“ von Information, ist ja, dass sie uns erlaubt, wieder in direkteren Kontakt zu unseren Kommunikationspartnern zu treten – obwohl man lange Zeit das Gegenteil vermutete. Im Falle der E-Mail konnten wir schon sehr früh beobachten, wie der Schreibstil sich zusehends in eine Richtung veränderte, die wir von der direkten Interaktion während einer realen Begegnung kennen. Mittlerweile gibt uns die Technik die Möglichkeit, zum Beispiel mit Skype oder über Youtube von Angesicht zu Angesicht miteinander zu sprechen, also auch sämtliche nonverbalen Elemente der Kommunikation, wie Gesichtsausdruck, Stimme, Gestik, zu übermitteln.

Wobei der Umgang mit neuen Medien, also vor allem mit mobilen Geräten wie Smartphones oder Tablets, doch nach wie vor textbasiert ist.

Das stimmt. Die Generation der Digital Natives benutzt ihre Telefone längst nicht mehr zum Telefonieren, sondern vor allem zum Schreiben von Textnachrichten. Ich sehe hier aber eigentlich keinen Widerspruch. „Comeback der Oralität“ soll ja nicht heißen, dass wir plötzlich mit dem Schreiben aufhören. Nur die Art, wie wir schreiben, die beginnt sich eben zu verändern. Und damit, das ist vielleicht noch viel entscheidender, verändert sich auch die Bedeutung der sogenannten Buchkultur als Technik der Welterfassung.

Eintritt in eine „nächste Gesellschaft“

Das müssen Sie erklären.

Wir leben in Zeiten eines grundlegenden medialen Umbruchs. Die Art und Weise, wie wir Informationen speichern und weitergeben, also unser Wissensmanagement, ist dabei, sich stark zu verändern. Der Schweizer Soziologe Dirk Baecker hat das schon vor Jahren sehr schön beschrieben als Eintritt in eine „nächste Gesellschaft“. Die Frühgeschichte war noch ganz von mündlicher Kommunikation geprägt, die in der Antike von der Schrift abgelöst wurde, und in der Moderne schließlich in das komplexere Medium Kodex oder Buch aufging. Heute merken wir, dass wir alle diese Medien auf äußerst produktive Art und Weise miteinander kombinieren können, dass wir Elemente oraler Kommunikation einsetzen können, um Wissen intelligenter zu speichern und weiterzugeben.

Wie äußert sich dieser Prozess konkret?

Sie sehen das zum Beispiel an der Art und Weise, wie sich Bibliotheken als Orte der Wissensarchivierung verändern. Erst kürzlich wurde die Deutsche Nationalbibliothek per Gesetz dazu verpflichtet, auch nicht-körperliche, also digitale Medien zu archivieren. Die amerikanische Library of Congress hat es sich zur Aufgabe gemacht, sämtliche von US-Bürgern verschickte Textmeldungen des Kurznachrichtendienstes Twitter zu sammeln, um so etwas wie das moderne Narrativ einer ganzen Gesellschaft abzubilden.

Weil Sie gerade von „Narrativ“ sprechen – welche Rolle spielt das sogenannte „Storytelling“ für diese neue Form der Archivierung und Wissensvermittlung?

Im Managementbereich ist das ja gerade ein großer Hype – meiner Meinung nach durchaus mit einer gewissen Berechtigung. Die Idee, komplexe Zusammenhänge in Form einer Geschichte, einer Erzählung zu präsentieren, berührt ja eines der entscheidenden Konzepte der modernen Informationswissenschaft: die Unterscheidung zwischen Information und Wissen. Bloße Fakten sind relativ nutzlos, solange sie nicht eingebettet sind in ein Narrativ, das nicht nur explizites, sondern auch implizites Wissen vermitteln kann.

Und dies passiert beim Erzählen von Geschichten?

Genau. Der Sinn erschließt sich, ohne wirklich explizit benennbar sein zu müssen. Denken Sie nur daran, wie oft man ein persönliches Gespräch mit belanglosen Dingen beginnt. Das ist aber ganz entscheidend, um die Inhalte, die Sie dann aufnehmen, sinnvoll in einen Gesamtkontext einzubinden.

Risiken der Digitalisierung

Inwieweit kann uns neue Technologie dabei helfen, dieses implizite Wissen zu erschließen?

Im Grunde geht es hierbei immer um den Versuch, das „immaterielle kulturelle Erbe“ einer Gesellschaft zu erfassen, sei es der Stream von Kurznachrichten bei Twitter, die Berichte von Zeitzeugen oder die Rituale einer kleinen Ethnie. Und da unsere Aufzeichnungsgeräte immer leistungsstärker und handlicher werden, bin ich guter Hoffnung, dass wir hier im Bereich der Archivierung große Fortschritte machen werden. Aber die Digitalisierung kann auch riskant sein.

Was meinen Sie?

Zunächst ist es immer gefährlich, der Technik zu sehr zu vertrauen. Als die Navajo-Indianer in den 1980er-Jahren versuchten, ihre oral tradierte Kultur auf Video zu dokumentieren, musste Sie bereits zehn Jahre später feststellen, dass die Magnetbänder nicht mehr lesbar waren. Dies nennen wir Informationswissenschaftler das Problem der Digitalen Langzeitarchivierung.

Aber viele Länder, besonders auf dem afrikanischen Kontinent, setzen große Hoffnungen in die neuen Möglichkeiten digitalen Dokumentierens.

Und das vollkommen zu Recht. Andererseits muss man sich immer bewusst machen: Mit digitaler Aufzeichnung allein ist es noch nicht getan. Man benötigt am Ende auch immer Menschen, die beschreiben können, was man auf den Bildern sieht. Da wir es aber oft mit sehr heterogenen Ethnien zu tun haben, fehlen oft genau diese Experten. Und es besteht die Gefahr, am Ende vor einer riesigen Datenbank mit Videoinformationen zu stehen, in der man dennoch nichts findet.

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Internet-Redaktion Juli 2013

Erschienen auf www.goethe.de im Juli 2013